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Gustav Meyrink - Das Tor zum Phönix

Aus den Münchner Neuesten Nachrichten, 18.2.1932

Den ganzen Tag hat mich Unruhe gequält, ich müsste es noch einmal sehen: das Tor zm Phönix, bevor die Brecheisen es fräßen. Ich fühlte, es rief nach mir; jedes sterbende Wesen schreit nach einem pochenden Herzen, und sei es auch nur, um sich darin einzuprägen und als Bild dort fortzuleben. Bis in den Schlaf hat mich der Ruf verfolgt und ich ahnte, es ging um mehr als den Anblick eines toten Gemäuers - um etwas, das jenseits der Sinne und aller Vernnft liegt und wie eine unsichtbare Kompassnadel die Schritte zum magnetischen Pol eines anderen Daseins lenkt. So stand ich denn auf und kleidete mich an und wanderte in tiefer Nacht hinaus durch die verschneiten, öden, verrufenen Gassen der Vorstadt und über das Trümmerfeld verrotteten Mauerschutts, das heute noch das Pestviertel heißt, weil einst vor Jahrhunderten dort der gefleckte Würgengel von Tür zu Tür geschlichen war. Auf dem Wege fiel mir ein: ich hatte, als ich auf die Straße trat, den Schlüssel des Hauses, in dem ich wohne, weit von mir geworfen. Warum nur? Ich kann es mir nicht erklären! So handelt nur jemand, der die Absicht hat, nicht mehr heimzkehren! Oder weiß meine Hand, die es getan, mehr, als ich selbst weiß?! ... Hinter einem toten Gehölz rauhreifbeglitzerter erfrorener Kiefern ragt die graue Ruine auf, vor der ich mich auf einer Parkbank sitzend finde. Vom Mondlicht getroffen, glänzt blau wie dunkler Opal der schneeverhängte Torgieben über dem mit glattem Kalkstein vermauerten ehemaligen Einlass, dem rest eines uralten, längst verschwundenen Mausoleums. Oft habe ich als Kind auf der selben Bank vor dieser Mauer gesessen, wartend und sinnend, ob es wahr sei, was das Volk sich erzählt: dass zu gewissen Zeiten ein hoher, kreisrunder,nasser Fleck darin erscheine. Für Menschen, deren Augen reif geworden seien, Dinge wahrzunehmen, die der Erde entronnen sind, entschwände alsbald der Fleck und werde zu einem offenen Tor in ein Land geheimnisvollen Lebens.

Ich schaue hinauf zu dem verschneiten Sims, da löst sich der überhängende Schneewall und fällt herab, und das steinerne Wappentier wird sichtbar, nach dem der Torbogen seinen Namen trägt: ein byzantinischer Phönix, halb Adler, halb Pfau, mit einem Zottelbart aus Eiszapfen, den Federschweif gesträubt, die Schwingen zum Fluge ausgebreitet. Mit Menschenantlitz, den Mund weit offen, starrt es aus lidlosen Augen auf mich nieder; ein Lauschen, schreckhaft lebendig durch die Schatten der jagenden Wolken am Himmel, liegt in diesem Gesicht. Als ich, geblendet vom Widerschein des Mondglanzes, den Blick senke, sehe ich für Sekunden den sagenhaften nassen Kreis in dem Gra des vermauerten Tores, nach dessen Erscheinen ich mich in meiner Kindheit heimlich und doch schreckensbang gesehnt habe. Langsam verblasst er. Ich empfinde es wie ein Gleichnis: Ähnlich so ist auch die Märchensehnsucht meiner Jugendjahre zergangen. - Ich glaube jetzt zu wissen, wie die Legende von dem seltsamen runden Fleck entstanden sein mag: ein optischer Reflex auf der Netzhaut ist er, der sich einstellt, wenn vorher das Auge auf eine hellschimmernde Fläche gerichtet war! Ich fühle ein fremdarteig trauriges Erlöschen in mir; es wird wohl das Zu-Asche-Werden des letztenFunkens kindlichen Wunderglaubens sein, der insgeheim in mir fortgeglommen hat bis heute, ohne dass ich es ahnte.

Ober mir der Phönix ist für mich kein Fabelwesen mehr - nur noch ein Klumpen morschen Muschelkalks, die Umrisse zerätzt vom Hauch der Erde, und das Trümmerfeld ringsum ist zum Abbild durchschauten Lebenswahns geworden. Der eisige Atem der starren Winternacht kommt mir jäh zum Bewusstsein.

Stimmengewirr schlägt an mein Ohr, verstummt mit einem Ruck, als hätte jemand die Tür eines menschenerfüllten Raumes aufgerissen und blitzschnell wieder verschlossen ...

Ich vermute, ich bin auf die Quelle des Geräusches zugegangen und auf solche Weise in die hölzerne Bauhütte geraten, die bis dahin meinen Blicken verborgen, hinter dem vermauerten Torbogen lag. Fuhrleute und Erdarbeiter hocken im Qualm des engen Zimmers an rohgehobelten Tischen vor trüben Gläsern mit dampfendem Tschai. Vielleicht warten sie auf den kommenden Morgen, den Schutt aus dem Pestviertel wegzuschaufeln? Schwelende Öllampen hängen von der Decke herab. Zu mir hat sich ein alter hagerer Mann in verschlossenen Kleidern gesetzt, ein messerscharfes Don Quichotte-Gesicht mit weißem Knebelbart. Seine Augen spähen ruhelos bald dahin, bald dorthin, nach links, nach rechts, nach oben und nach unten in die leere Luft, als müsse er ein Heer unsichtbarer Wesen beständig in Schach halten. Ich kenne ihn doch! Und wie kommt er hierher zu einer Stunde, wo alles längst schläft in der Stadt? Er hat mir zugenickt, als wisse er genau, wer ich bin. Langsam dämmert mir auf: Es ist der Magister Apuleius Wasserdampf, die jungen Leute auf der Universität nennen ihn so. Wahrscheinlich, weil er, ohne sie zu absolvieren, immerwährend Student geblieben ist ... Sicherlich habe ich meine Gedanken in Worte gefasst, denn er bestätigt: "Ja, ich bin Studiosus der Rechte, der Medizin, der Philosophie und der technischen Wissenschaften, Nicht etwa aus Wissensdrang, nein, nein!" - Er zieht einen Bleistift aus der Tasche, zeichnet damit auf die altersbraune hölzerne Tischplatte Figurenj und Gesichter und murmelt: "Nur, weil ich davon lebe. Wie man vom Studieren leben kann? Eine alte Verwandte hat mir auf dem Sterbebett ein Legat vermacht. Es fällt mir zu, solange ich Student bin. Sie werden jetzt sagen, ich führte ein zweckloses Dasein! Auch mich hat diese Vorstellung lange Jahre gequält, bis ich eines Tages - draußen" - er macht eine unbestimmte Armbewegung - "ein senkrecht in der Erde steckendes, leeres, altes, eisernes Wasserrohr sah. Ein Mistkäfer von der Species der Skarabäen mühte sich ab, daran emporzuklimmen. Oben angelangt, fiel er innen hinein. Da ging mir ein Licht auf und ich weiß seitdem: Das Leben muss einen anderen Zweck haben, als ein äußeres Ziel zu erreichen! Der Mensch ist nur ein Schatten, den ein zeit- und raumentwordener Phönix tausendfältig auf die Erde wirft." - Nach einer Pause fährt er halblaut fort: "Meine einzige Besorgnis ist, ich könnte eines Tages sterben und in das Bewusstsein jenseits der Todesschwelle die Zwangsvorstellung mit hinübernehmen, ich sei immer noch Student." - Ich wehre ab: "Vorausgesetzt, Sie wüssten dann nicht, dass Sie gestorben sind, Herr Magister..." Er zuckt zusammen: "Wenn man kein Gehirn mehr hat, womit soll man wissen, dass man ... Man müsste dann nach innen horchen, ob das Herz noch schlägt." Er greift sich an die Stirn, und in seine Miene titt ein Ausdruck so seltsamen Lauschens, dass ich glaube, das Antlitz des Wappentiers draußen über dem Torgiebel statt seines Gesichts vor mir zu sehen. "Sie haben soeben das Wort Phönix gebraucht", breche ich das Schweigen, "ich bin gekommen, den Giebel noch einmal zu sehen, bevor er abgetragen wird..." - Magister Wasserdampf start mich an: "Abgetragen wird? Er ist seit Menschengedenken niedergerissen!" - Eine Minute lang würgt mich das Entsetzen, eine Erinnerung aus Kinderzeit könnte lebendig vor mich getreten sein - draußen auf der Parkbank -, dass ich gewähnt hatte, greifbare Wirklichkeit zu sehen. Dan beruhige ich mich: "Der Alte redet irre, das ewige Studieren hat ihm die Sinne verwirrt!" Und ich überlege, wie lange es wohl her sein mag, dass ich ihn zuletzt gesehen habe; ich hatte angenommen, er müsste verschollen oder längst gestorben sein, da niemand in der Stadt mehr von ihm spricht. Dann greife ich auf das abgebrochene Gespräch zurück: "Herr Magister, ich kann nicht glauben, dass das Leben den Tod überdauert; es ist ein Widerspruch. Alles erlischt." - Der alte Mann deutet mit dem Bleistift auf seine Zeichnungen auf der wurmstichigen Tischplatte: "Erlischt? Das Leben? Und was ist das?" Ich blicke hin und sehe Bilder, so sprechend und packend, dass die Schöpfungen eines Frans Hals oder Rembrandt dagegen verblassen. "Sie sind ein großer Künstler, Herr Magister!", rufe ich voll Verwunderung. Er schüttelt den Kopf: "Nein, ich nicht. Das Leben ist ´s. Ich habe nur mit dem Bleistift nachgezogen, was auf dem Holz steht. Aus jeder Steinplatte, jedem Fleck, jedem Tuch, jeder Baumrinde staren uns solche Gesichter entgegen. keiner beachtet sie, glaubend, es seien Formen, die sich im Gehirn bilden, Nein, sie sind da, sind wirklich und wahrhaftig, wirklicher vielleicht als unsere Augen. Ich frage Sie: Was sind sie? Sind es vergangene Wesen, die sich einätzen in den Stoff, um uns zu sagen: Wir leben und ihr wisst es nicht?! Sind es Dämonen einer fernnahen Welt? Oder sind es Geschöpfe, die ihr Zurückkommen ins Reich der Zeit als Bilder verkünden? Was, wenn es Versuche des Lebens selbst wären, sich im Formbilden zu üben, damit die Welt nicht zu Asche wird? Kann sein: Wir Menschen sind auch nichts anderes als plastisch gewordene Bilder - als Torbogen, über denen ein Phönix schwebt..."

Ich wende den Blick von den Zeichnungen auf der Tischplatte; so eindringlich schauen sie mich an, das ich mich fürchte, sie möchten heraustreten und auf mich zu und mich in ihre Mitte nehmen ... Aber was ist das? Sind die Fuhrleute und Erdarbeiter von ihren Bänken aufgestanden, um zu hören, wie unsere Rede weitergehen wird? Mit offenem Mund stehen sie im Halbhreis um mich herum. Und wie sie gekleidet sind! Sie haben Bundschuhe an den Füßen und tragen Wämser und kurze Kittel aus zerfaserter Leinwand, wie ich es auf mittelalterlichen Kupferstichen, die Leibeigene darstellen, gesehen zu haben mich entsinnen. Ein drosselndes Gefühl so grausiger Unwirtlichkeit nähert sich mir, dass ich meine Brust betaste, ob ich noch hier bin. Ich höre zu meiner Beruhigung, dass ein Windstoß, der die Hütte umfegt, die Tür hinter mir aufreißt - erkenne es an dem eisigen Hauch, der meinen Rücken trifft. Zu meiner Verwunderung flackern die schmalen Flämmchen der Öllampen nicht; sie schwelen noch dunstiger als früher, und die Luft im Raum ist zum Ersticken. Ich taumle auf und tappe mich durch dem Qualm zur Schwelle. Ich kann sie nicht überqueren; sie hält meine Füße fest: Ich sehe, dass draußen auf der grell vom Mondlicht beschienenen Bank, auf der ich vor einer Stunde noch gesessen bin, zusammengesunken eine dunkle Gestalt regungslos hockt. Ein Mann im schweren Mantel, eine Laterne vorgestreckt in der Hand, leuchtet ihr ins Gesicht. Ich scheue mich, genauer hinzuschauen, voll Furcht, in den Zügen dessen, der leblos dort sitzt, angezogen wie ich selbst und mit einem Schlapphut, der wie der meinige ist, mich selbst wiederzuerkennen als Leichnam- als einen, der in der Eiseskälte der Nacht zu Tode erstart ist ...

Spricht ein Gedanke in mir, oder murmelt der Wächter mit der Laterne wirklich die Worte: "Wieder einer, der durch den Kreis in der Mauer den Weg gefunden hat!"