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Žaba
S. W. Herrn Dr. Sacrobosko Haselmayer, z.Zt. in der Irrenanstalt Prokopythal bei Prag.
Johannistag.
Lieber, hochverehrter Freund!
Wieviel Sonnenwendfeiern sind es jetzt wohl her, seit wir uns nicht mehr gesehen haben?! Ob Sie
sich Ihres alten Studienkollegen in der Petrefaktenkunde noch entsinnen? Ich nehme es an.
Immer, wenn sich der Johannistag jährt, bemächtigt sich meiner eine seltsame Unruhe: jedesmal
schürzt sich da für mich ein neuer Knoten in einem besonderen Schicksalsfaden, und verfolge ich
diesen bedeutsamen Strahn zurück in die Vergangenheit, um den Sinn des Knotens zu ergrübeln, so
finde ich als letzte einfache Wahrheit - losgelöst von jeder Einzelheit - die einfache schlichte
Erkenntnis: er sei unendlich und hat keinen Anfang. Ich kann mir nur hinzudenken: er ist wohl nichts
anderes als ein winziger Teil des großen Netzes, das wir die Gemeinsamkeit der Monaden nennen
dürfen. Eins ist gewiß: in zweierlei Geflecht des Fatums ist der Mensch eingesponnen: das eine ist
der Ablauf des Körpers von der Geburt bis zum Tod; und es haspelt sich ab - dieses äußere Erleben -
in winzigen, engen, eiligen Maschen. Das andere Schicksal hat Siebenmeilenstiefel an, und seine
Schritte sind lang und gemessen. Von ihm zu reden, hat wenig Zweck - entweder kennt es ein Mensch,
oder er kennt es nicht! Ich habe auch gar nicht die Absicht, Sie, lieber Freund, mit Weisheit zu
behelligen; ich schlug das Thema lediglich an, um Ihnen ein gemeinsames Gespräch aus alten Tagen
ins Gedächtnis zurückzurufen und damit zugleich die Erinnerung an meinen Namen, falls Sie ihn
wider mein Hoffen dennoch vergessen haben sollten.
Wie gesagt: jeder Johannistag bedeutet mir irgendwie eine Fußstapfe in dem Rhythmusschritt jenes
zweiten »inneren« Schicksals; auch gestern wieder am Vortag des heutigen Sonnenwendfestes
bemerkte ich bereits den beginnenden Zehenabdruck des sich niedersenkenden großen Fußes: ich
begegnete zufällig dem Ihnen bekannten Maler Franz Taussig. Er führte mich in sein Atelier. Dabei
fiel Ihr Name. Ich hielt es für überflüssig, zu sagen, daß ich Sie kenne, und war nur im Herzen froh,
wieder von Ihnen hören zu dürfen. Noch ehe ich etwas erwidern konnte, verwandelte sich meine
Freude in tiefes Erschrecken: ich mußte erfahren, Sie hätten an sich die ersten Anzeichen einer
beständig fortschreitenden Geisteskrankheit bemerkt. Ich schreibe das absichtlich mit dürren Worten
hin so rücksichtslos und roh es beim ersten Augenblick klingen mag , um Ihnen zu beweisen, daß
ich bestimmt weiß: Ihr Leiden wurzelt keineswegs in einer Krankheit im Gegenteil: in der klaren
Wahrnehmung wirklich vorhandener Bilder, die mit Gesichtern oder schemenhaften subjektiven
Vorstellungen nicht das geringste zu tun haben!
Der Erzählung des jungen Malers entnahm ich: es stellen sich bei Ihnen in regelmäßigen
Zeitabständen immer die gleichen »Halluzinationen« ein, so daß Sie oft wochenlang keinen Schlaf
finden und deshalb angsterfüllt den Rat eines Irrenarztes angerufen hätten. Als ich nach den näheren
Umständen fragte, holte der Künstler hinter der Staffelei zwei Bilder hervor. Er hätte sie, behauptete
er, unter dem Eindruck der lebendigen Schilderung Ihrer Visionen auf der Leinwand festgehalten.
»Es wurde mir dabei sehr merkwürdig zumute so, als ob alles wirklich vor mir auftauchte, oder
eine fremde Hand in der meinigen den Pinsel führe«, sagte er wörtlich.
Ich muß wohl blaß bis in die Lippen geworden sein, als ich einen Blick auf die Gemälde warf,
denn er lief erschreckt hinaus und kam mit einer Kognakflasche bewaffnet zurück. Wortlos zog ich aus
meiner Brieftasche ein paar kleine vergilbte (ich trage sie seit 45 Jahren als Andenken bei mir),
laienhaft entworfene Bleistiftskizzen und hielt sie ihm hin. Die Reihe, bleich zu werden, war jetzt an
ihm, denn sie glichen haargenau dem Vorwurf seiner Bilder. Er bestürmte mich mit Fragen. Ich
schützte Übelkeit vor und ging. Immer besser: es jungen Menschen zu überlassen, selber gewisse
Nüsse zu knacken, statt ihnen dabei behilflich zu sein! Nur so lernen sie, die »Großen Fußstapfen des
Schicksals« zu erkennen, und üben sich im Ergrübeln, wie wohl das Antlitz dessen aussehen mag, der
so weite Schritte zu tun vermag!
Wie ich zu den beiden Skizzen kam und was es für eine Bewandtnis hat mit den Visionen? Ich muß
da auf ein Erlebnis meiner Jugendjahre zurückgreifen:
Schon als Gymnasiast war ich erpicht, Versteinerungen und andere Petrefakten zu sammeln. Ob
dem ein gesunder Hang, die Geschichtsunterrichtsstunden zu schwänzen insbesondere weil es mir
widerstrebte, die Ruhmestaten Alexanders des »Großen« und anderer besoffener serbischer, antiker
Feldwebel auswendig zu lernen , zugrunde lag oder wirkliche Sammelwut, ich ahne es nicht , die
Tiefen der menschlichen Seele sind unergründlich. Sie wissen ja selbst, lieber Freund: mit
Sammelgier beginnt es; dann später wird einem eingeredet, man müsse sich dessen schämen, und
schließlich zieht man gelehrsame falsche Schlüsse aus den gefundenen Versteinerungen und wird
selber ein Petrefakt oder ein Lehrer auf diesem Gebiet, was dasselbe ist.
An einem Johannistag wanderte ich hinaus in die Kalkfelsen des Prokopytals, ausgestattet mit
Rucksack, Geologenhammer und Meißel. Schon damals wußte ich um die Bedeutsamkeit dieses
Tages, nur war mein Herz noch eingestellt auf den heißen Wunsch, eine Versteinerung der Trilobita
paradoxida zu finden. Das ist lange her. Die Vorliebe für Trilobiten ist mir inzwischen abhanden
gekommen; Paradoxe hab ich noch immer gern. Wo jetzt das Irrenhaus steht, ragte zu meiner Zeit der
Gipfel des Felsens empor mit einer tiefen Höhle, daß es in der Dämmerung aussah, als gähne ein
unheimlicher fahlweißer Riese. Darin habe der Heilige Prokop vor Jahrhunderten gehaust, sagt
man. Aus dem Herzen Asiens soll er hergewandert sein. Nach der Beschreibung in einem verwitterten
Archiv dürfte er ein Tibeter gewesen sein. Schon oft hatte ich um die Mittagsstunde aus der Höhle,
zu der kein Eingang führte, eine Glocke schrillen hören, und als ich nach der Ursache fragte, hieß es:
eine uralte, blödsinnige, taubstumme Zigeunerin, Žaba genannt was soviel bedeutet wie »der
Frosch« , lebe darin seit mehr als 80 Jahren. Sie sei einst eine Hexe gewesen und jetzt völlig
teilnahmslos; nur mittags läute sie mit einer geborstenen Kuhglocke, worauf man ihr Brot und Wasser
außen an dem Felsen mit einem Strick herabließe. Die Frauen des Dorfes erzählten, sie hätte in ihrer
Jugend ein Liebesverhältnis mit dem Teufel gehabt, sei immer noch schwanger und könne nicht
niederkommen.
Die Neugierde packte mich, und ich erklomm den fast glatten, senkrechten Felsen. Oft meinte ich
fallen zu müssen, und es ist nicht übertrieben, wenn ich sage: nur der feste Glaube, an einem
Johannistag sei ich gefeit, gab mir immer neue Kraft. Endlich konnte ich mit den Händen den unteren
Rand des gähnenden Rachens fassen und hineinspähen. Ein trockener, erstickender Hauch wie von
Asche und Moder quoll mir entgegen, und ich sah ein zum Skelett abgezehrtes nacktes Weib hocken
wie ein Frosch, die Hände vor sich auf den Boden gestützt. In ihren weit aufgerissenen,
wimpernlosen, gelben Augen glänzte der Widerschein der Mittagssonne. Sie schienen blind zu sein
und starrten regungslos wie die einer Toten in die Ferne. Kaltes Entsetzen würgte mich. Wie lange ich
dort hing? ich weiß es nicht. Ich weiß nur: wie in halber Ohnmacht sah ich die Greisin
verschwinden hinter einer Fata Morgana oder was es sonst war. Ich fühlte mich plötzlich weit weg
von der Höhle, sah den unheimlichen, ewig dürren Baum, der damals in Wirklichkeit oben über der
Grotte auf dem Felsgipfel stand und merkwürdigerweise niemals morsch wurde, trotzdem er keine
Blätter trieb; sah unter mir die Landschaft sich verändern: die Moldau und ihre Ufer verwandelten
sich in ein wie vorsintflutlich anmutendes Bild; ich sah eine fremdartige mittelalterliche Terrasse aus
einer opalisierenden Nebelstadt aufsteigen mit phantastischen Gestalten darauf
Ich ahnte nicht, wie
ich an dem glatten Felsen wieder herunterklettern konnte, ohne abzustürzen. »Selbstverständlich
war es nur Sinnestäuschung, hervorgerufen durch die Angst meiner Nerven«, sagte ich mir später gar
oft, wenn ich die Bleistiftskizzen wieder zur Hand nahm, die ich damals, als ich kaum zu Hause
angekommen war, entworfen hatte. Ich hätte im Laufe der Zeit das Erlebnis wahrscheinlich vergessen,
wenn es nicht in jeder Johannisnacht, sooft die Feuer auf den Höhen um Prag aufflammten, vor
meinem Blick neu erstanden wäre! Man sagt: wirklich Gesehenes unterscheidet sich von Vision
durch schärfere Deutlichkeit. Wenn dem so wäre, dann müßte das Bild wirklich sein und die
Außenwelt verweht zu Traum.
Nach ungefähr zehn Jahren zogs mich abermals hinaus zur Prokopyhöhle. Sie war abgesprengt;
man hatte Zement aus dem Kalkstein gemacht und ihn in Säcken in die Stadt gefahren. Vielleicht trägt
heute so manches Haus Spuren der Asche der Žaba in seiner Haut.
Kaum hatte ich mich niedergelegt auf den dürren Moosfleck, der wie eine rostfarbene große Narbe
den Hals des enthaupteten Felsens verschloß in halber Erwartung, das alte Bild wiederkehren zu
sehen, da war mit einem Male der Himmel geteilt: eine dunkle Wand schob sich vor meinen Blick und
immer deutlichere und klarere Umrisse wurden in ihr erkennbar ruckweise hervortretend, als
entrolle der Rhythmus des Herzschlags in meiner Brust eine Art Film und sende ihn mühevoll mit dem
pulsierenden Blut empor in das Hirn. Es war eine fremdartige Stadt wie eine tibetanische
Klosterfestung, auf einem Felsen erbaut. Als ich die Skizze einem Psychoanalytiker zeigte, meinte er
lächelnd, das Bild sei leicht zu deuten; leider fehle ihm die nötige Zeit, es mir zu erklären; es sei das
Widerspiegeln gewisser sexueller Kindheitserinnerungen, worauf besonders die vielen Galgen unter
den Klosterzellen sprächen und die auf die Felsenstadt zufliegenden Engel mit Kreuzen, Posaunen und
Kelchen. Mir geht das nicht ein. Ich weiß eine bessere Erklärung! Ist es gar so dumm, anzunehmen:
der Heilige Prokop hat während seines Lebens in der Höhle oft zurückgedacht an sein heimatliches
Tibet, und das Bild seiner glühenden Sehnsucht hat sich auf uns unerklärliche Weise eingeätzt in die
Atmosphäre des nach ihm benannten Prokopytals? Und was das erste Bild betrifft: schwerer ist es
wohl zu deuten als das zweite, aber wenn ich mich hineinzudenken versuche in das Dasein der alten
Žaba
vielleicht ist die Vorstellungskraft einer Seele in einem blinden, tauben und stummen Leib
zeugungsmächtiger als in einem durch die Sinne der Außenwelt zugekehrten? Hat die Seele jener
rätselhaften Zigeunerin sich das alles nur erdacht, oder war es phantastisches Zerrbild von
Erinnerungen an Geschehnisse aus Zeiten von ihrer Geburt? Vielleicht ists eine gigantische Fußstapfe
aus fernster Vergangenheit der Greisin gewesen eine Sohlenspur des großen wandernden Etwas,
dessen winzigster Teil die Žaba war!
Sie sehen, verehrter Freund: das, was Sie erleben und für krankhafte Halluzination halten, ist nichts
als ein Aushauch des Ortes, wo Sie sich jetzt befinden; steht doch das Sanatorium auf demselben
Fleck wie einst die Höhle Prokops und der Žaba. Hab doch auch ich mich vor 45 Jahren dort
seelisch angesteckt! Bezahlen Sie dem Herrn Irrenhausdirektor seine Rechnung und verlassen Sie laut jauchzend das
Lokal! Nur sagen Sie ihm um Gottes willen nichts von meinem Brief; sonst langt er mich mit dem
Lasso ein, um einen neuen Patienten zu gewinnen!
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, sehr verehrter Herr Dr. Haselmayer,
Ihr treuergebener
Gustav Meyrink.