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Online-Quelle: scribd.com

Der Astrolog

Juli, der bayrische Eismonat, war gekommen.

Finstere Nacht. Ich lag im Bett und konnte nicht schlafen. Draußen im Park ächzten die alten Bäume im Sturm, und, da sie dem Nachbar gehören und mir tagsüber die Aussicht verstellten, hoffte ich inbrünstig, sie möchten abbrechen. Eisklumpen trommelten an die Fenster: "Hagel" nennt es der Volksmund. Jemand pfiff und heulte, rüttelte an den Türen; das konnte wohl nur die Windsbraut sein! - "Was will sie denn bei mir? Ich bin doch schon ein alter Herr!" brummte ich und wälzte mich auf die andere Seite. "Wenn das Luder doch endlich einmal heiraten möchte, damit der Unfug ein Ende hat", sagte ich unwirsch und schlief einen Augenblick lang ein. "Hörst du, wie der Donner grollt?" -^ ich fahre auf: hab' ich den Satz, unberufen, nur geträumt, oder umsäuseln mich die Gespenster toter Lyriker mit überflüssigen Fragen?

Ehe ich noch das Problem zu lösen vermochte, schmetterte ein Donnerschlag sein: Ratzkrachbumm - nur viel, viel lauter, als es mir jemals niederzuschreiben gelänge -, daß die Mauern nur so zitterten und ich unwillkürlich und unvorsichtigerweise "Herein!" rief.

Da! Leise, leise öffnete sich die Zimmertür -. Fassungslos und von Grauen geschüttelt, stammelte ich - halb Literat, halb gläubiger Christ mit weißen Lippen: "Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, Jessas, Maria und Joseph!" - Aber es half alles nichts: die Tür ging noch weiter auf. "Es wird Isidor Palmenblatt sein, mein Dackel", wollte ich mir einreden (er heißt so, weil er wunderschöne fächerförmige Hände hat und große dunkle jüdische Augen), und ich lauschte, von Zuversicht belegt, ob nicht ein Kratzgalopp über den glattgewichsten Parkettfußboden erfolgen würde, endend als jäher Sprung auf das Federbett. - V ergebliche Hoffnung! Nichts kratzt!

Schon wollte ich mein Anlitz mit der Decke verhüllen, um allenfalls eindringenden Gespenstern vorzutäuschen, ich sei keineswegs vorhanden, da gewahrte ich bei dem üblichen fahlen Schein eines Blitzes, daß bereits ein Phantom mitten im Zimmer stand. Rasch gefaßt, nahm ich meine Zuflucht zu Goethe plus Coue und deklamierte dementsprechend meinem Unterbewußtsein, alles Vorhandene ableugnend, zu: "Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif", aber der Schemen blieb standhaft, hob warnend die Rechte und ließ ein dreifaches Meisterdiadem auf seiner Glatze und ein dito Szepter in seiner Hand erstrahlen.

Zu meiner unsäglichen Erleichterung erkannte ich: es war Demetrius Hasenknopf, der weltberühmte Astrologe, der mir vor geraumer Zeit das Horoskop zu stellen sich nicht hatte verkneifen können. Genauer ausgedrückt: es war sein Astralkörper.

"Er will mich warnen, der Wackere", fühlte ich, von Vertrauen durchrieselt, "vor etwas nahe bevorstehendem Fürchterlichen. Aber was konnte das sein? Und was bedeutet das Diadem und der Herrscherstab?" - Ich richtete mich auf und suchte nach einer höflichen Phrase, denn ich nahm an, einen Abgeschiedenen vor mir zu haben - da hatte er sich bereits in meinen Kammerdiener Corbinian verwandelt und meldete: "Der Knähherr sullen zam Delefohn kemma, a dringende Depeschn war do aus München!"

Wie? Mitten in der Nacht? Was, wenn mir der Blitz ins Ohr schlägt! - Aber in Hechtsprüngen verließ ich das Zimmer, huschte zum Apparat und vernahm gesträubten Haares die Schreckensbotschaft :

"Aufgegeben München Mitternacht. Quadratur Mars-Merkur - Sonne eingetreten. Uranus rückläufig. Furchtbare Katastrophen für Europa in unmittelbarer Nähe. Einzig sicherer Ort nur noch Athen. Anrate schleunige Flucht dorthin. Hasenknopf."

Das Hörrohr entsank meiner bebenden Hand. Hasenknopf ist Deutschlands größter Astrologe! Wenn er so etwas telegrafierte, durfte es da noch ein Zaudern geben?! Astrologie ist bekanntlich die einzig verläßliche Wissenschaft heutzutage. Zudem stand gestern noch die Wetterprognose in der Zeitung: Besserung schreitet fort. Jawohl, ich begriff: "schreitet fort", vielleicht um nie mehr wiederzukehren! -

"Corbinian! Einpacken!" Und wie von einer dunklen Eingebung ergriffen, setzte ich hinzu: "die neueste neoklassische Literatur nicht vergessen! Wer weiß, ob ich sie nicht in Athen werde brauchen können!"

Schlotternd erwartete ich den Morgen. Raffte ein paar alte Freunde zusammen. Flugzeug. Wien! Macht nichts. Triest! Schnell den Xenophon her, wie heißt es dort so trefflich? Richtig ja: Thalatta, Thalatta! Das Meer! Das Meer! Dampf-Eilbarkasse sticht in See.

Rasende Fahrt. Was naht sich da? Ein schwarzer Strich; Juden? Nein: Korfu! Wir halten den Atem an: Kaiser Wilhelms Pankitschaion wird sichtbar. Aber der mutige Kapitän läßt die Ventile beschweren und den Kessel mit Schinken heizen. Ha, wie das edle Schiff den Kiel beflügelt! Hurrah, vorbei! Niederländisches Dankgebet: das Unheil ist gnädig hinweggeglitten. Und jetzt: sei mir gegrüßt, du holder Stern:

Athen! Verdammtes Pech! Was soll das heißen? Hasenknopf hat doch gesagt: einzig sicherer Ort nur noch Athen! Und ge rade jetzt ist hier nebbich - die Revolution ausgebrochen!? Martialische Gestalten mit hängenden Schnurrbärten, Ballettröckchen und Schnabelschuhen marschieren in schütterndem Schritt durch die Kephisiastraße zum Schloß und zählen laut dabei: "eis, dyö, eis dyö", damit keiner dem ändern auf den Absatz tritt.

Unvorsichtigerweise gab ich mich als Dichter zu erkennen und wurde zur Strafe auf die Akropolis verschleppt. - Wochenlange Qual. Tag und Nacht bewachten und bedrohten mich mit Knuten und Hexametern sieben bis an die Zähne bewaffnete Hopliten. Zum Glück für mich hatten sie vor Jahren in Görlitz im Kriegslager Deutsch gelernt - was ihnen nunmehr zum Verderben "ereichte, denn es gelang meiner List, sie zum Lesen der Werke Paul Ernsts zu verleiten, die mir der brave Corbinian in meinen Koffer gepackt hatte. Worauf sie alsbald in Todesschlaf versanken. So glückte es mir, zu Hieben. Wohl war ich splitternackt, denn man hatte mir alle Kleider geraubt, aber da ich ein nasses Handtuch über dem vorgestreckten Arm trug, ließ man mich überall unbehelligt durch - im Glauben, ich filmte den Apoll von Belvedere. Als Weintraubenkiste verkleidet mischte ich mich unter eine Schar Hydridioten und entrann per Schiff odysseushaft nach Syrakus, wo ich, als gänzlich verdorben, an den Meistbietenden unter den Essighändlern versteigert wurde. Vorgeneigter Leser, frag nicht, was ich unterwegs ausgestanden habe, als die Trauben anfingen in Gärung überzugehen!

Für den Auktionserlös kaufte ich mir einen Ochsenziemer - in heimlichem Gedenken an den Astrologen Hasenknopf. "Doch ach", sagte ich, "werde ich ihn jemals wiedersehen?" Quadratur Mars-Merkur-Sonne, wie könnte es da sein, daß Europa noch stünde! Die Sterne lügen nicht. Oder? Und die Italiener, die ich danach fragte, wußten nicht, wo es liegt. Ich machte mir keine Hoffnung, es wiederzufinden, obgleich ich mich nicht genug wundern konnte, daß der Römische Stiefel unversehrt geblieben war. Sicherlich, so sagte ich mir: Nordeuropa zumindest ist von Windhosen aller Art - vielleicht mit, vielleicht ohne Bügelfalte - dem Erdboden gleichgemacht. - Müd im Herzen zog ich der Heimat zu, zerrissen, barfuß den Apennin entlang über die endlose Via Latrina. Monate waren vergangen, da erst hatte ich Rosenheim, den berüchtigten bayrischen Knotenpunk t, glücklich im Rücken, aber von einer Zerstörung, wie ich mir sie ausgemalt, war noch immer nichts zu sehen. - "Freilich, Hasenknopf wird einwenden: Bayern, insbesondere Oberbayern, könne man doch nicht gut zu Europa rechnen", sagte ich mir, wie ich so fürbaß schritt, aber ich faßte trotzdem meinen Ochsenziemer noch grimmiger und murmelte mir zu bis in die Absätze hinunter: "Hasenknopf!" wenn meine Füße erlahmen wollten. Gegen Sonnenuntergang eines Samstags langte ich in München an.

Große Plakate klebten an allen Straßenecken: "Heute Vortrag Hasenknopf! - Deutscher Astrologenbund.Hosenknopf' (Druckfehler natürlich!) - Prophezeiungen Prof. Hasenknopfs seit Monaten buchstäblich eingetroffen (mein Ochsenziemer zuckte wie eine Wünschelrute) - astrologisches Kausalgesetz in Bayern in voller Auswirkung. - Neue Katastrophen bevorstehend!" - Wilde Wut packte mich, und federnden Schrittes eilte ich in das Versammlungslokal, um gleich beim Eingang mit dem Vorsitzenden des Astrologenbundes "Ho-, nein: Hasenknopf" zusammenzuprallen.

"Oh, schon von Athen zurück, wie ich sehe?" (Er warf einen Blick auf meine Wanderfüße.) "Sie können von Glück reden, daß Sie während der Quadratur Mars - Merkur - Sonne nicht hier waren. - Ich weiß ja", setzte er beschwichtigend hinzu, als sein Blick mein flackerndes Auge traf, "Sie haben immer ein wenig an der Zuverlässigkeit unserer Wissenschaft gezweifelt, aber jetzt, wo alles wortwörtlich eingetreten ist - ich meine im Juli damals - - - "

"Ju - - -, dama-?" stotterte ich, höchlichst erstaunt.

"Nun ja", erklärte der Vorsitzende, "kaum waren Sie nach Athen fortgeflogen, da brachen doch die denkwürdigen Unruhen imBayrischen Landtag aus, und der Bierpreis wurde um 3 Komma 7 Pfennige erhöht! Gibt's einen schlagenderen Beweis, daß man alles aus den Sternen lesen kann?!" - er wollte noch weiter reden, aber wir wurden von einer Schar das Lokal stürmender astrologischer Mänaden aus dem borussischen Norden auseinandergerissen. Eine von ihnen "die Sirius-Vettel" wird sie von Lästermäulern genannt - steckte mir ein Traktätchen zu und flatterte sodann mit hurtiger Sandale in den Saal, in dessen Hintergrund Hasenknopf bereits das Vortragspodium erklomm, den Knebelbart weit vorgestreckt wie ein Steinbock (offenbar eine Anspielung auf das gleichnamige Tierkreiszeichen).

Die Menge stand zu dicht, als daß ich zu ihm hätte gelangen können, und so mußte ich mich mit dem Knirschen meines Ochsenziemers begnügen. Ein Laie auf astrologischem Gebiet hätte, ohne jedoch die tiefen Zusammenhänge der terrestrischen Dinge zu ahnen, wahrscheinlich in diesem Falle mit dem Dichter gesungen: "Es hat nicht sollen sein!", aber ich sagte mir nach einer Weile ohnmächtigen Grimmes: offenbar sind er - nämlich der Ochsenziemer - und Hasenknopfunter gänzlich verschiedenen Planeten geboren, sonst hätten sie fraglos jetzt zusammenkommen müssen.

Resigniert trat ich die Heimreise nach Starnberg an, aber die halbstündige Fahrt sollte mir zur Quelle unerhörter Offenbarungen werden. Anscheinend stand mein Aszendent, der Jupiter, überaus günstig, sonst hätte ich ihrer kaum in solcher Überfülle teilhaftig werden können. - Was ich da bruchstückweise in der Eisenbahn in der mir zugesteckten kleinen Schrift las - beim Schein meines Benzinfeuerzeugs (nach Einbruch der Dunkelheit werden bekanntlich in den Waggons die Lampen ausgelöscht), brachte mir - wenn auch spät, doch immer hier noch früh genug - die Erkenntnis, welch tiefer ethischer Wert der Astrologie und ihrer Anwendung aufs praktische Leben innewohnt. Mit ehernen Worten stand da schwarz auf weiß, daß der Instinkt lediglich ein verächtliches Überbleibsel aus dem Tierreich ist, und ihm anzuhangen einem aufrechten Menschen zur Affenschande gereicht. Zum Beispiel: essen, trinken, verdauen - je nach Drang wie verächtlich, wenn man aus dem Stand der Planeten mit dem Bleistift auf die Sekunde genau ausrechnen kann, ob das eine oder das andere stattzufinden hat, ohne, wie bisher, Gefahr zu laufen, die eine Funktion mit der ändern zu verwechseln oder gar zu verquicken! Hasenknopf, o du gesegneter Dolmetsch der himmlischen Wissenschaft, jetzt weiß ich erst, was das dreifache Diadem und das dito Szepter in deiner Hand in der eingangs erwähnten Vision zu bedeuten hatte: du oder deinesgleichen wird der lang ersehnte Führer für das deutsche Volk werden und es nach glücklicher Beseitigung jeglichen Instinktes wieder empor zum Lichte führen. Das Walter Scott!-Heil!