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Online-Quelle: mobileread.com

Die Frau ohne Mund

Einen Arzt fragen? Lächerlich! Er würde meine Milz untersuchen, ob ich nicht etwa an Leukämie litte. Würde er mich verstehen, wenn ich ihm anvertraue: es begann damit, daß ich an einem trüben Novembermorgen nach einer wie immer traumlos verschlafenen Nacht als ein Veränderter erwachte, als ein ohne erkennbare Ursache Einsamgewordener, als ein Mensch, der urplötzlich aus einer Welt voll Freuden und Genüssen hinweggeglitten ist und ihre Klänge nur mehr vernimmt wie ein höhnisches Echo aus dem Abgrund einer tausendjährig versunkenen wahnerfüllten Vergangenheit? Würde er meine Qual begreifen, wenn ich ihm sagte: ich gehe umher wie in eine gläserne Hülle gebannt, durch deren lichtbrechende Wandung die Bilder der äußeren Welt in meine Sinne fallen: verzerrt, grauenhaft im Anblick und dennoch nackter in ihrer Wahrhaftigkeit, als daß ein durch den Alltag abgestumpftes Auge die Fäulnis sehen könnte? – Wie könnte ich einem Mann der Wissenschaft klar machen: ein Etwas stünde hinter mir seit jenem Novembertag, wo es doch gar nicht hinter mir steht, sondern vor mir, neben mir, über mir, um mich herum – ich weiß nicht, wo. Es ist mir näher als der Raum, der mich umhüllt, näher als der Raum, den ich ausfülle mit meinem Körper? – Ist es möglich, daß man jenseits des Styx – im Tiefschlaf – Dinge erleben kann, die unserm Wesen so urfremd und unfaßbar sind, daß unser Gedächtnis sie nie ergreifen wird? Hat uns der Tag so blind gemacht, daß uns der Schlaf wie lichtloser Tod erscheint? – Als ich noch ein Kind war, fand ich einmal an einem blühenden Strauch eine schöne, grüne Raupe, und man sagte mir, ein wunderbarer Nachtschmetterling würde daraus, wenn ich sie pflegte und fütterte. Eines Morgens war sie tot, und ich sah mit Entsetzen, wie ein scheußliches schwarzes Insekt mit ovalem, maullosem Kopf und langen Spinnenbeinen und dünnem Leib und gläsernen Flügeln aus der kleinen Leiche kroch. Eine Schlupfwespe sei es, erklärte man mir, deren Wurm sich heimlich vom Leben des Schmetterlingkindes genährt habe. – – Warum ist die Erinnerung an dies längst vergessen gewesene Erlebnis meiner Jugend nach jener traumlosen und doch für mich so schicksalsschweren Nacht plötzlich wieder lebendig geworden? — Allmählich im Lauf der Zeit hat sich in mir die phantastische Idee eingefressen wie ein Blutegel, das Etwas, das mich ausfüllt, sei eine Frau. Eine Frau mit schwarzem Halbschleier, der ihren Mund unsichtbar macht. Ich weiß bestimmt, ich habe eine solche Frau nie im Leben gesehen. Ein Freund, dem ich mich anvertraute, glaubte, sich mit Bestimmtheit erinnern zu können, das Bild einer solchen Frau irgendwo gesehen zu haben. Wo, wisse er nicht mehr, aber sicherlich hänge es an der Wand eines der zahlreichen Nachtlokale im »Harlem-Negerviertel«.

Er meinte, wahrscheinlich hätte ich es ebenfalls einmal erblickt, aber nur so flüchtig, daß die Erinnerung daran in mein Unterbewußtsein versank. Nur das Schreckhafte des Eindrucks, der von dem Bild ausgehe, wegen seiner unerhörten Perversität, habe sich in mich eingeätzt und ringe sich jetzt vergeblich an die Oberfläche meines Gedächtnisses empor; ähnlich, wie wir uns zuweilen abmühen, uns eines vergessenen Namens zu entsinnen. – – Das war gestern. Aber dieses Gestern, das Monate zurückliegt, ist für mich zu einer nicht endenden Gegenwart geronnen. »Wenn es dir gelingt, das Bild aufzufinden«, hatte mein Freund gesagt, »so bist du von Stund an gesund. Was für uns Menschen gegenständlich wird, und sei es der Teufel selbst, hat von diesem Augenblick an jegliche dämonische Macht über uns verloren.« Seitdem schlafe ich des Tages und durchstreife nachts die Vorstädte und alle Straßen, vom Broadway angefangen, nach nächtlichen Lokalen, an deren Wändendas Bild der Frau ohne Mund hängen könnte. Ich finde mich in riesigen Arenen mit hunderttausend Sitzplätzen, angefüllt mit wattierten Schultern und einem Meer von Gesichtern, die auf Boxkämpfe niederstarren in immerwährender Unruhe, aber für meinen verwandelten Sinn verwesende Leichen, die ein unfühlbarer Sturmwind hin und her schaukelt. Ich durchstöbere die Tapeten aller Negerdielen und Tanzbars. Vergebens.

Ich frage mit stockenden Worten Farbige aller Rassen, die aussehen, als seien sie zu Hause in den Spelunken des Abschaums New Yorks, ob sie nicht das Bild der Frau ohne Mund kennten. Sie schütteln den Kopf oder halten mich für betrunken; einige grinsen zynisch. Einmal schon glaube ich am Ziel zu sein; ein Chinese nickt eifrig zu meiner Frage. Sagt: »Bild nix, aber lebende Frauen ohne Mund genug. Mund zum Küssen nicht nötig. Der Herr mitkommen!« Er will mich mit sich zerren. Ich begreife: er ist Opiumraucher. – – – Ja, das war … gestern. Ich glaube, es war gestern. Jetzt ist es wieder Nacht, und ich sitze in der mit grünen Vorhängen abgeteilten Box einer obskuren Negerbar und warte auf Mr. Sid Black, der hier verkehren soll, und von dem die Farbigen sagen, es gäbe nichts auf der Welt, das er nicht in Erfahrung bringen könne, denn er sei hellsichtig. Er stamme aus Port au Prince, sei aber sehr stolz, ein reinblütiger Aschanti aus dem Herzen Afrikas zu sein. Er sei beständig maßlos betrunken von allen möglichen Rauschgiften, aber nur in gewisser innerlicher Art: äußerlich merke man ihm nicht das geringste an; sein Körper sei giftfest. – – Ich sitze vor einem hohen Glase »Limonade«, ein Gemisch aus Rum und denaturiertem Spiritus, und starre nach dem grünen Vorhang. Zwei Uhr schlägt es von irgendeiner der silbernen Scheiben draußen an der Wand. Ich kann mich nicht entsinnen, seit Jahren eine Uhr schlagen gehört zu haben.

Der ungewohnte Klang macht mein Blut fiebern, und ich fühle: jetzt in dieser selben Minute werde ich erfahren, wer die Frau ohne Mund in Wahrheit ist. Daß es ein Bild von ihr nicht geben kann, ist mir vor einer Stunde zur Gewißheit geworden. Ein plötzlicher Gedanke, von eisigem Schauer angekündigt, hat es mir verraten. Mein Freund hat sich geirrt; auch er kann nie ein Bild von ihr gesehen haben. Beeinflußt durch ihre unsichtbare Nähe, als ich zu ihm von ihr sprach, ist er einem Erinnerungsirrtum verfallen und hat gewähnt, ihr Bild irgendwo hängen gesehen zu haben. Wie furchtbar muß ihre gespenstische Macht sein! – – – Eine schmale Hand in weißem Glacéhandschuh zieht den grünen Vorhang zur Seite, und herein tritt die hohe, engschultrige Gestalt eines mit raffinierter Eleganz gekleideten ebenholzschwarzen Gents. Seine Gesichtszüge sind von klassischem Ebenmaß, so daß ich glaube, die Statue eines antiken Hellenen aus schwarzem Marmor vor mir zu sehen. Sid Black verrät mit keiner Bewegung, daß er über alle Maßen betrunken ist; aber ich ahne es an der abgerissenen Art, wie er spricht, als er sich neben mich gesetzt hat, und schließe darauf, weil er jede Sekunde aus einer silbernen Dose weißes Pulver schnupft. Kokain. »Reden Sie!«, sagt er, fast herrisch. Der Stolz der weißen Rasse bäumt sich in mir auf, aber ich zergehe fast unter dem sengenden Blick dieser glasharten, leuchtenden Augen, und meine Lippen, meine Zunge erzählen – gegen meinen Willen – alles, alles. – »Sie haben einmal ein Liebesverhältnis gehabt!« – »Freilich. Viele sogar, Mr. Sid Black.« – »Mit einer jungen Mulattin.« – »Wieso wissen Sie?« – Der Neger überhört meine Frage: »Sie ist tot.«

»Ja«, hauche ich entsetzt, »sie hat bei einem Automobilunfall, als sie mit mir im Wagen saß, das Leben verloren.« – »Leben verloren? Ein Mensch, der liebt, kann das Leben nicht verlieren. Ein Aschanti kann das Leben nicht verlieren. Sie war eine Quarterone, aber aus dem Stamm der Aschanti.« – »Wir haben uns heiß geliebt«, sage ich, von Erinnerungen überwältigt. Sid Black wirft ein: »Ihr euch! Heiß? Sie hat Sie geliebt! Was weiß ein Weißer von Leidenschaft!« – – Sid Black als gebürtiger Haitianer spricht ein tadelloses Französisch; ich verstehe alles, was er sagt, nur halb. Sein Haß gegen die Weißen ist grenzenlos, fühle ich. – Vor einer Viertelstunde ist er gegangen; in seiner Trunkenheit schien er meine Anwesenheit plötzlich vergessen zu haben. Ich reime mir mühsam zusammen, was ich von ihm erfahren habe: Lilith – so hieß meine einstige Geliebte – war eine Heidin und gehörte der geheimen Negersekte der jamaikanischen Voudous an. Der Hauch ihrer unbändigen Leidenschaft sei es, der, in mich eingegangen, mich aufzehre – der meine Seele in die ihrige verwandle, bis nichts mehr von meiner Mannheit übrig sei. So, wie eine Mulattin, wenn sie im Körper noch auf dieser Welt weile, die Lebenskraft eines weißen Mannes versickern mache. – »Ihr Erlebnis mit der Schlupfwespe«, so ungefähr hatte Sid Black gesprochen, »war eine Voraussage des Geschickes, das Sie treffen mußte. Lilith ist die Frau ohne Mund, die Sie um sich und in sich fühlen. Daß sie keinen Mund hat, wundert Sie?« – er hatte höhnisch dazu gelächelt. »Die Leidenschaft des schwarzen Blutes redet nicht und küßt nicht mit dem Mund.« – Sid Blacks letzte Worte gellten mir noch im Ohr: »Zugrundegehen werdet ihr alle, ihr Weißen, an den Giften, die ihr nicht vertragt, und an dem Gift der Leidenschaft der Frauen, für die ihr zu schwach seid. Wir schwarzen Männer werden die Herren der Welt sein.«