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Online-Quelle: scribd.com

Der schwarze Habicht

Des Teufels größte Gemeinheit ist bekanntlich, daß er so tut, als ob er nicht existiere. Gebildete Leute und Aufgeklärte gehen ihm daher auch regelmäßig auf den Leim, wenn er sich den Spaß leistet und das macht er oft und gern - , unter der Maske irgendeines berühmten Mannes vor sie hinzutreten; sie halten ihn für das, wofür er sich ausgibt, und ziehen den Hut vor ihm im guten Glauben, er sei ein Sterblicher wie sie.

Bei Schäfern, Kuhhirten, Sonntagskindern und Waisenknaben freilich tut er sich hart; da nützt es ihm wenig, den Schweif um den Leib gewickelt zu tragen, so daß nur das buschige Ende als dunkelviolette Rose das Knopfloch sichtbar ziert. Er wagt es daher seit geraumer Zeit nur mehr selten, derart Klarsichtige heimzusuchen.

Mich persönlich scheint er leider für besonders gescheit - also für dumm in seinen Augen - zu halten, denn er läßt keinen Tag vergehen, ohne mich mit immer neu verstellter Handschrift in zahllosen Briefen allen möglichen schmeichelhaften Inhalts zu behelligen, die jedesmals mit den Worten enden: apropos, können Sie mir nicht einen Verleger für meine Romanmanuskripte verschaffen? Wer anders sollte da der Autor sein, als der Teufel selbst? Deutschland hat doch nur 60 Millionen Einwohner; unter ihnen können doch unmöglich 65 Millionen Schriftsteller sein! Natürlich falle ich auf solche Zeitdieberei nicht herein - habe mir längst einen Kasten mit automatischer Wasserspülung an der Tür anbringen lassen, der solche Korrespondenz ungeöffnet sofort dem Rinnstein überliefert, wenn der Postbote sie durch den Schlitz hineinwirft. So weit wäre alles gut, was aber soll man tun, wenn sich folgendes begibt, wie soeben jetzt? Es ist totenstille Mitternacht, ich sitze an meinem Tisch und schreibe. Vor mir steht eine gebauchte Flasche mit Wasser; ein blendendheller Funken darin - der Reflex der Glühbirne an der Zimmerdecke - lauert, mich zu betäuben und meine Gedanken und Einfälle in sich hineinzusaugen, falls ich, wie vor einigen Minuten, nochmals so unvorsichtig sein sollte, meinen Blick versonnen auf ihm ruhen zu lassen. So kurz es gedauert hatte, es genügte, daß er sich sofort verwandelte, um mir das Bild eines Ungeheuers vorzugaukeln, das irgendwo in einem mir unbekannten Land im Sande eines weiß schäumenden Meeresgestades mit rasender Schnelle phantastische Kreise zog. Ein Laie hätte es für eine Maschine - die drachenartige Ausgeburt eines Automobils - halten können, wäre nicht der Name "Black Hawk" (Schwarzer Habicht) auf seiner Flanke gestanden. Eine Vision also, sagte ich mir, und nahm mir vor, die Flasche nicht mehr anzuschauen, sondern lieber beim Nachdenken in die dunkle Ecke neben dem Bücherschrank zu blicken, denn ich weiß nur zu genau: ein Lichtfunken, wie der da im Wasserglas, kann sehr leicht zu einem Satansauge werden, wenn sich der Vorhang am Fenster der Stube, die wir klares Bewußtsein nennen, nur um ein weniges verschiebt. Habe ich vielleicht doch wieder, ohne es zu wissen, eine Sekunde lang oder so in den blitzenden Reflex gestarrt? Ich glaub's nicht, denn soeben noch hat die helle Kinderstimme des Dienstmädchens hinter mir gemeldet: "Gnädiger Herr, ein Fremder in Lederanzug möchte Sie sprechen."

"Jetzt? Mitten in der Nacht? Soll ihm wahrscheinlich einen Verleger verschaffen für einen Band lyrischer Gedichte!" - meine Lippen bewegen sich noch beim leisen Murmeln dieser Worte, aber trotzdem kommt es mir vor, als seien Stunden vergangen, seit ich dem Herrn im Lederanzug einen Lehnsessel zum Sitzen anbot und mit ihm in ein langes Gespräch kam.

Worüber wir geredet haben? Ich glaube darüber, daß höchste Geschwindigkeit und tiefste Ruhe im Grunde dasselbe seien, aber, wie kann ich das jetzt noch wissen? Ich sitze doch an meinem Tisch und schreibe ununterbrochen! - Plötzlich sagt der Fremde unvermittelt: "Es ist unhöflich von Ihnen, zu behaupten, des Teufels größte Gemeinheit sei, zu tun, als ob er nicht existiere. Gerade Ihnen gegenüber habe ich nie ein Hehl daraus gemacht, daß..."

"... daß Sie der berühmte Captain Malcolm Campbell sind, der in Florida vor kurzem auf seinem Rennwagen einen Weltrekord von 207 Meilen in der Stunde aufgestellt hat", falle ich ihm rasch ins Wort, um ihm die Peinlichkeit, sein Inkognito lüften zu müssen, zu ersparen, und greife nach seiner Visitenkarte, die mir vorhin das Dienstmädchen hereingebracht hat, kann aber den Namen nicht darauf finden: offenbar habe ich mich vergriffen, denn in der Hand halte ich da einen leeren Pappestreifen, wie man solche bisweilen in Zigarettenschachteln findet.

"O nein, der bin ich nicht", widerspricht der Fremde. "Campbell ist doch in Florida und hat eine Riesenangst, daß ihn Frank Murphy mit meinem Black Hawk - ich habe Ihnen vorhin in der Wasserflasche den Wagen gezeigt, erinnern Sie sich nicht? - um die Lorbeeren seines Ruhmes bringt. Vorerst ist's Murphy mißglückt, denn der Black Hawk hat sich, wie Sie wohl in amerikanischen Zeitungen gelesen haben dürften, beim Nehmen einer Kurve überschlagen..."

"Ja, ja, ich weiß, eine schwarze Katze war schuld daran. Solche Biester bringen Unheil! Eine Dame hat sie bekanntlich dem Mr. Murphy ins Auto mitgegeben. Ich vermute, die Dame war seine Gattin?" - "Hm. Könnte sein", meinte der Fremde nachdenklich, "werde nächstens besser acht geben. Hier sehen Sie" - dabei legt er einige Bilder vor mich hin - "meine neueste Konstruktion, den ,Blue Bird'; er macht sicher 400 Meilen in der Stunde. Bin neugierig, wer der glückliche Fahrer sein wird."

Ich denke nach. Mustere unter halbgeschlossenen Augenlidern hindurch das Gesicht meines Gastes; es bleibt starr und unbeweglich wie der Kopf auf einer Münze. - Was plant er, daß er die Menschen verleitet, im Erleben immer größerer und größerer Geschwindigkeiten einen Genuß zu empfinden? Will er sie noch unglücklicher machen, als sie sowieso schon sind? Der berühmte Physiker Arago hat, als die Eisenbahn vor achtzig Jahren in Frankreich eingeführt werden sollte, gesagt: wer in einer Maschine fährt, die...

"... die nur zwanzig Meilen in der Stunde zurücklegt, wird bestimmt wahnsinnig" - ergänzt der Fremde meinen Gedankengang. "Arago hat recht gehabt! Würden Sie nicht auch wahnsinnig, wenn Sie sich so langsam fortbewegen ließen? Also!"

Er hat einen heimlichen Hintergedanken, fühle ich, er will mich in Irrtum führen! - "Gott, so heißt es, ist die ewige Ruhe", sage ich ihm auf den Kopf zu -, "und deshalb wollen Sie uns arme Sterbliche ins Gegenteil locken!" Der Fremde errötet geschmeichelt. Hüstelt dann schlicht: "Das Gefühl rasendster Schnelle ist die höchste Wonne! Wollen Sie dessen doch inne werden!" Inne werden? Sonderbarer Satz: inne werden! Wie meint er das: inne werden?! Es hat wie eine Aufforderung geklungen. In der Verlegenheit tue ich etwas mit halbem Bewußtsein, was, wie mir scheinen will, eine gewisse entfernte Ähnlichkeit mit dem Sinn der Worte hat: ich nehme die Flasche, schenke mir ein Glas ein und trinke mit dem kühlen Wasser das Bild des Black Hawk, das deutlich darin schimmert, in mich ein. Vielleicht hängt damit irgendwie zusammen, daß mich jetzt mit einem Mal die wahnwitzige Sehnsucht befällt, auch in einem solchen "schwarzen Habicht" fahren zu dürfen? "Ist es nicht möglich, lieber Freund, daß Sie gelegentlich mit Captain Campbell sprechen, ob er mich nicht mitnehmen möchte?" will ich fragen, aber ich unterdrücke die Rede, denn ich weiß gar wohl: jetzt, wo die Flasche anders steht als vorhin, sehe ich das glühende Auge meines Besuchers nicht mehr und er ist aus meinem Gesichtskreis gerückt und nicht mehr hier. Wie sollte er auch! Ist es doch seine Lieblingsgewohnheit, zu tun, als ob er nicht existiere. Er hält es auch jetzt so. Eine Schlamperei aber hat er begangen: die Bilder seiner Höllenwagen hat er auf meinem Schreibtisch in der Eile des Verschwindens vergessen! Ich übergebe sie der Öffentlichkeit, ehe er zurückkommt und sie wieder abholt.