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Der Lotse

Morgen jährt sich für mich jener Tag "Maria Himmelfahrt" zum vierundzwanzigsten Male; ich saß in Prag in meinem Junggesellenzimmer vor meinem Schreibtisch, steckte den Abschiedsbrief, den ich an meine Mutter geschrieben hatte, in das Kuvert und griff nach dem Revolver, der vor mir lag; denn ich wollte die Fahrt über den Styx antreten, wollte ein Leben, das mir schal und wertlos und trostarm für alle Zukunft zu sein schien, von mir werfen.

In diesem Augenblick betrat "der Lotse mit der Tarnkappe vor dem Gesicht", wie ich ihn seitdem nenne, den Bord meines Lebensschiffes und riß das Steuer herum. Ich hörte ein Rascheln an der Stubentüre, die hinaus auf den Hausflur führt, und als ich mich umdrehte, sah ich, daß sich etwas Weißes unter den Türrand über die Schwelle ins Zimmer schob. Es war ein gedrucktes Heft. Daß ich den Revolver weglegte, es aufhob und den Titel las, entsprang weder der Regung einer Neugier, noch auch irgendeinem heimlichen Wunsch, den Tod hinauszuschieben - mein Herz war leer.

Ich las: "Über das Leben nach dem Tode." "Merkwürdiger Zufall!" wollte sich ein Gedanke in mir regen -aber er brachte kaum das erste Wort über meine Lippen. An Zufall habe ich seitdem nie mehr geglaubt, wohl aber an den - Lotsen.

Ich zündete mit zitternder Hand - vorher hatte sie nicht einen Augenblick gezittert, weder beim Schreiben meines Abschiedsbriefes an meine Mutter, noch als ich nach dem Revolver gegriffen - die Lampe an, denn es war dunkel geworden, und las das Heft, -offenbar hatte es der Austräger meines Buchhändlers hereingeschoben, - von Anfang bis zu Ende mit jagendem Puls. Es war rein spiritistischen Inhalts und schilderte vor allem die Erfahrungen der großen Forscher auf diesem Gebiete: William Crookes, Prof. Zöllner, Fechner und anderer mit den Medien Slade, Eglingtone, Home usw.

Ich saß die ganze Nacht hindurch wach, bis der Morgen zu dämmern begann und heiße, mir bis dahin fremde Gedanken kreisten mir im Hirn; sollten so hervorragende Gelehrte, wie die genannten, sich getäuscht haben?! Kaum denkbar! Aber welche sonderbaren, unbegreiflichen, allen bekannten Normen der Physik hohnsprechenden Naturgesetze waren dann in Erscheinung getreten?!

Der sengende Wunsch, solche Dinge mit eigenen Augen zu schauen, sie mit eigenen Händen zu greifen, sie auf ihre Richtigkeit hin nachzuprüfen und die Geheimnisse, die ihnen zugrundeliegen mußten, zu durchschauen, erhitzte sich in jener Nacht in mir zu dauernder Weißglut.

Ich nahm den Revolver als einen vorläufig unbrauchbar gewordenen Gegenstand und sperrte ihn in die Schublade; ich besitze ihn noch heute. Er ist an Rost gestorben und seine Trommel dreht sich nicht mehr, wird sich nie mehr drehen.

Dann legte ich mich schlafen und schlief einen langen, tiefen, traumlosen Schlaf. Traumlos? Traumlos nur insofern, als ich keine Bilder sah oder Szenen miterlebte. Aber es gibt noch andere, viel abgründigere Erlebnisse im Tiefschlaf, als das Träumen in Formen und Gestalten; es ist das eigentümliche Lebendigwerden von Wort und Rede, wo kein Mund da ist, der sprechen könnte, außer dem eigenen.

Es ist ein Dialog, bei dem Sprechen und Hören zwei getrennte Personen und dennoch ein und dieselbe sind. Erwacht man nach einem solchen Zwiegespräch, so hat man immer jene Worte als solche vergessen; ihr Inhalt kommt dann im Laufe des Tages in Form plötzlich anfallender Gedanken zu Bewußtsein, die sich gebärden, als seien sie soeben erst dem Mutterschoß des Gehirns entsprungen.

Ich erwachte damals mit dem Empfinden, irgend jemand im Zimmer hätte etwas laut gesagt; im nächsten Augenblick jedoch wurde mir klar, daß ich selbst aus dem Schlaf heraus gesprochen hatte und ich konnte den Bruchteil einer Sekunde lang noch meine Lippen dabei ertappen, wie sie (nebst unverständlichen Sätzen, die so klangen, als entstammten sie einer fremden Sprache) die Worte murmelten: "So fährt man nicht über den Styx!"

Der Lotse hat es mir gesagt, war meine Überzeugung von da ab viele Jahre lang und viele Theorien stellte ich mir auf: falsche, halbfalsche, dreiviertelwahre, spiritistische, abergläubische und religiöse (die gefährlichsten von allen), wer jener Lotse wohl sein möchte. Lang, furchtbar lang dauert es, bis man erkennt, welche Kräfte sich als Lotse maskieren können, ein qualvolles Wandern durch Sümpfe, voll von Irrlichtem ist es.

"Die Lösung ist sehr einfach", sagen die "Know nothings" - die Garnichtswisser, die "tiefen Denker". Schizophrenie-Bewußtseinsspaltung" - sagen sie, die mit Worten jonglieren, wie Psychoanalyse, Hysterie, Mystik, Seele, Magie, Gottsuchen, geistige Wiedergeburt, inneres Leben - und dabei Wachstum von Zerfall nicht unterscheiden können.

"Jesus Christus" ist der "Lotse", sagen die andern, die "frommen" Christen, die die Hand Gottes loslassen müssen, wenn sie sich eine Zigarette anzünden.

"Der Kontrollgeist ist der Lotse", sagen die Spiritisten, die einen Tisch befragen müssen, um zu erkunden, wie es jenseits des Styx aussieht - statt zu lernen, wie man selbst hinüberfährt. -

Als ich nach dem tiefen Schlaf, den ich "traumlos" nannte, erwachte, ergriff mich eine bisweilen kindisch anmutende Besessenheit. In den ersten zwei Jahren hielt mich allein die Sucht am Zügel, spiritistische Phänomene zu erleben. Was an Phantasten, Wahrsagern und Narren in Böhmen herumlief, zog mich an wie ein elektrischer Stab die Papierschnitzel. Dutzende von Medien lud ich zu mir ein und hielt mit ihnen im Kreise von einigen Freunden, die ich mit meiner Monomanie angesteckt hatte, mindestens dreimal in der Woche halbe Nächte hindurch spiritistische Sitzungen ab.

Sieben Jahre setzte ich diese Sisyphusarbeit unermüdlich fort. Alles vergeblich: entweder versagten die Medien gänzlich oder sie entpuppten sich als Betrüger bewußter oder unbewußter Art. Niemals jedoch ließ ich mich täuschen, auch nicht ein einziges Mal.

Schon nach den ersten zwei Jahren faßten mich stärker und stärker werdende Zweifel an: haben sich alle die berühmten Forscher auf diesem Gebiet vielleicht doch geirrt?

Ich konnte es nicht glauben. Der Lotse flüsterte mir immer wieder im Tiefschlaf zu, nicht aufzuhören im Suchen. Es war, als träfe mich Nacht für Nacht ein neuer Knutenhieb von unsichtbarer Hand und peitsche mich vorwärts durch neue Sümpfe, voll von seltsamen Irrlichtern. Was an Büchern über Mediumismus und ähnliche Themen erschien, schaffte ich mir an - englische, amerikanische, französische und deutsche. Eine Fatamorgana nach der ändern tat sich vor mir auf. Oft und oft wollte ich den Trieb nach dem Unergründlichen mit Gewalt mir aus dem Herzen reißen -aber jedesmal erkannte ich schon nach wenigen Stunden: es ist zu spät - es geht nicht mehr. Ich war entsetzt darüber und dennoch -heimlich froh.

Mein Blut wurde immer heißer, Ehrgeiz aller Art fraß an mir -eine Lebensgier, wie ich sie heute kaum mehr begreife, bäumte sich in mir auf- aber wenn ich nach wüst durchschwelgten Nächten (solche Stunden folgten meist sonderbarer Weise unmittelbar auf vorher stattgefundene spiritistische Sitzungen, so als ob sich psychische Batterien übelster Herkunft auf mich übertragen hätten) spät am Morgen erwachte - nie faßte mich das Grau des Tages an, weder Ekel, Überdruß oder gar Reue: in den Stunden des Schlafes schürten die geheimnisvollen Blasebälge der Unterwelt der Seele die Sehnsucht nach der Welt, die jenseits des Styx liegt, zu neuer Glut an.

Ich glaubte wahrscheinlich im leichten Sinn meiner Jugend, das würde mein ganzes Dasein hindurch so fortgehen. Ich ahnte nicht, daß ich - zerrissen wurde. Mein Schicksal fing an zu galoppieren und ich merkte es nicht. Es fiel mir nicht weiter auf, daß mein ganzes Wesen allmählich jedes Grau aus dem Gesicht verlor, daß es bald nur mehr grelles Weiß sah und tiefes Schwarz - nurmehr lieben konnte bis zur Selbstverzehrung und hassen bis in den Tod. Ich haßte nicht Menschen deshalb, weil sie mir Böses antaten - oft fühlte ich ohne Grund Freunde in ihnen - auch liebte ich andere nicht, trotzdem sie mir Gutes erwiesen:

ganzen Typen von Menschen gegenüber sträubte sich mir förmlich das Haar, wenn ich auch nur innerlich an sie dachte; es war nicht Rassenfremdheit, die Haß in mir erweckte: es war vor allem jene Kategorie Mensch, die irgendwie an jene Abgeklärtheit erinnert, die sich oft nach außen hin kund gibt durch Haare, die über die Ohren gekämmt sind, oder durch gepflegten Vollbart und "treuen" Blick. Ein Psychoanalytiker würde sagen: jener Typus, von dem es in der Bibel heißt: "ich will sie ausspeien aus meinem Munde." Hier liegt offenkundig ein seelischer Komplex vor; ein aus dem Gedächtnis verwischtes Erlebnis aus früher Kindheit. Vielleicht hat er recht. Aber ich glaub's nicht. Ich vermute, es liegt eher eine heimliche Warnung des Lotsen vor- eine Warnung vor irgendeinem Begebnis, das sich in ferner Zukunft einmal abspielen wird - vielleicht sogar erst in einer anderen - Verkörperung. Mag sein: der Teufel erscheint mir dann, damit ich das Tintenfaß nicht nach ihm werfen kann, im Habit eines Pastors.

Dieses Sichscheiden in Weiß und Schwarz verstärkte sich in mir von Jahrzehnt zu Jahrzehnt; auffallend genug, da doch mit zunehmendem Alter sich gerade das Gegenteil kundgibt: ein Verschwimmen der Kontraste in jenes banale Grau, das der Dichtermund als das Gold des Mittelweges preist.

Ich habe gesagt, ich ahnte lange nicht, daß ich zerrissen wurde. Ich sah wohl mit steigender Angst, daß das Schiff meines Lebens in tückische Wirbel geriet, aus denen bald ein Entrinnen unmöglich schien - ich will sie nicht schildern; denn sie müßten bei dem großen Elend, das heutzutage über allen Menschen liegt, wohl jedem belanglos vorkommen und man würde sagen: "Jammer, Entsetzen und Sorge im Frack!? Weiter nichts?!" - Ich will die Schilderung jener Wirbel und Zyklone, denen ich entgegentrieb, nur in kurze Worte fassen; so oft ich in der Zeitung erwähnt fand, dieser oder jener sei in einem Wald verhungert aufgefunden worden oder hätte sich wegen Not erhenkt, sagte ich mir: "Weiter nichts?! Wie leicht es der doch gehabt hat! Selbstmord! Wie bequem." -

"Der Lotse, der mich über den Styx steuert, auf besondere Art, wird mir helfen", hoffte ich jedesmal, wenn ich im äußeren Leben keine Rettung mehr sah. Und je glühender ich hoffte, desto sicherer versagte er! Das war das Furchtbarste.

Menschen, die ein großes Erdbeben miterlebt haben, erzählten mir, es gäbe nichts Entsetzlicheres, Mark und Bein Versengenderes, als die Erde, an die man als etwas Unerschütterliches von Kindheit an geglaubt hat, unter seinen Füßen wanken zu fühlen. -

- - Doch! Es gibt etwas noch viel Furchtbareres: es ist das Fahlwerden der letzten grünen Hoffnung.

Aber endlich glaubte ich dann gefunden zu haben, was ich so lange gesucht hatte: eine Vereinigung von Menschen (Europäern und Orientalen) in Zentral-Indien, die behaupteten, das wahre Geheimnis des Yoga zu besitzen, jenes uralten asiatischen Systems, das wohl den einzigen Weg angibt und weist zu jenen Stufen, die weit über alles Schwächliche, Unvollkommene, machtlose Menschentum hinausführen ...