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Magie im Tiefschlaf

Vorgänge, die sich überall und täglich wiederholen, lassen wir unbeachtet an uns vorüberziehen; zumindest halten wir sie einer gründlichen Erforschung nicht wert. Alle Lebewesen schlafen, auch die Pflanzen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Vielleicht sogar die Steine, daß sie nachts nicht schnarchen, darf uns nicht verleiten anzunehmen, sie schlafen nicht. -

Da wir schon bald nach der Geburt Wachsein mit Schlaf abwechselnd vertauschen, tritt später Erstaunen bei uns nicht ein, wenn wir beobachten gelernt haben, daß wir, sehr oft ohne anscheinend zureichenden Grund, innerhalb weniger Minuten das Bewußtsein verlieren oder beim Erwachen es ebenso schnell wieder zurückbekommen. Sehr selten fragt sich einmal einer oder der andere: was geht eigentlich mit mir im Tiefschlaf vor?

Die Frage ist nicht auf den ersten Hieb zu lösen, und so überläßt man die Antwort einem - Arzt! Gerade so gut könnte man sie einem Advokaten zuschieben. Wer auf solchen und ähnlichen Gebieten nicht selbst forscht, der wird ein Wissen nie erringen -höchstens wird er im Laufe der Zeit seinen Sprachschatz durch ein griechisches Fremdwort bereichern, das die Wissenschaft der Psychologie oder Physiologie stanzt.

Man würde lachen, träte jemand auf und sagte: im Reich des Tiefschlafs schlummern die ersten Ursachen, denen, unsere im Wachsein vollbrachten Taten entspringen! - Wer belesen ist, kann entgegnen: wenn es so wäre, müßten Menschen, die lange nicht schlafen - und es sind Fälle bekannt, daß so mancher jahrelang nicht geschlafen hat! - in Tatenlosigkeit versinken. -

Eine solche Widerlegung ist nur scheinbar richtig, wer scharf nachdenkt, wird von selbst dahinterkommen, weshalb sie brüchig ist. - Erst, wenn einwandfrei ein menschliches Wesen nachweisen kann, daß es nie im Leben geschlafen hat, dürfe man der gang und gäbe gewordenen Auffassung zustimmen: Schlaf ist Ausruhen und sonst nichts! - Es gibt nun im Gegenteil zahlreiche Beobachtungen - zu allen Zeiten immer neu erhärtet -, die beweisen, daß - unter Umständen wenigstens - im Tiefschlaf sogar rein verständlich mehr geleistet werden kann als bei klarem Tagesbewußtsein.

Um ein wohl allgemein bekanntes Beispiel anzuführen: Ein Student - ich glaube, er wurde später eine sehr berühmte Persönlichkeit - stand eines Nachts schlafwandelnd auf und löste auf seinem Schreibtisch eine abends angefangene mathematische Aufgabe in einer Weise tadellos, wie es ihm wegen mangelhafter Kenntnisse im Wachsein unmöglich gewesen wäre. Als er am Morgen aufstand, vermutete er, ein anderer habe die Arbeit besorgt; er erkannte sie erst als seine eigene an der Handschrift- so vollständig hatte er vergessen, was er körperlich im Schlaf vollbracht hatte. -

Die übliche Meinung, der Schlaf bezwecke lediglich, körperliche Ermüdung zu beseitigen, ist gänzlich falsch. Schlafwandler erwachen, wie ich mich selbst wiederholt überzeugen konnte, sogar nach vielstündigen nächtlichen Wanderungen beschwerlichster Art ebenso erfrischt wie die gesündesten Menschen - wenn nicht noch weit erfrischter!

Der alte Ausspruch: Wenn der irdische Mensch die Augen schließt, schlägt sie der jenseitige Mensch auf, femer der bekannte Rat aus dem Volksmund: überschlafe dir's, bevor du unterschreibst! - und viele andere Sentenzen und Hinweise und Fingerzeige haben mich schon in früher Jugend in der dunklen Annahme bestärkt, es könne Quellen magischer Kraft und Erkenntnis geben, die so fern unserem Tagesbewußtsein liegen, daß wir tief in die Abgründe des Schlafes tauchen müssen, wenn wir ihnen nahe kommen wollen.

Der Angelpunkt liegt im Tiefschlaf: dort ist der feste Punkt im Weltall, auf den der Hebel des Archimedes aufgelegt werden kann, um die Sterne aus der Bahn zu heben. Aber es gehört zum Schwersten, was man auf dem Wege der Selbstbeherrschung zu vollbringen vermag.

Gewisse gedankliche Hilfsmittel sind dazu nötig. Von zehn Versuchen scheitern bei mir meist etwa neun. Zwei Fälle, bei denen die Experimente glückten, will ich hier schildern.

Ich legte mich eines Abends - es war im Jahre 1895 in Prag - zu Bett, und mit dem Vorsatz, während des Schlafes "geistig" in die mir persönlich unbekannte Wohnung meines Freundes, des Malers Artur v. Rimay, zu gehen (oder mich hinzuversetzen), mit dem ich damals viel verkehrte und der gleich mir eifrigst bestrebt war, metapsychischen Problemen auf die Spur zu kommen. Ich wollte in seinem Zimmer, so nahm ich mir ebenfalls vor, fernwirkend Schläge mit einem Stock vollführen.

Zu diesem Zweck - genauer gesagt: um die Autosuggestion, die ich mir gab, besser imaginieren zu können - nahm ich einen Spazierstock mit ins Bett, ihn fest in der Hand haltend, während ich mich bemühte, einzuschlafen. Ich hatte die Erfahrung, daß man den Herzschlag beruhigen mußte, wenn man einen Gedanken festhalten will. Man kann dies auf dem Umweg über Atem- und Gefühlsregulierung unschwer bewirken.

Durch einen "Zufall" unterstützt, gelang es mir, mit einem Ruck einzuschlafen. Es folgte ein kurzer, tiefer, völlig traumloser Schlaf, der beinahe einer Ohnmacht glich. Ein geradezu wahnwitziges Furchtgefühl würgte mich plötzlich, und ich erwachte darüber nach etwa zehn Minuten. Ich war in kalten Schweiß gebadet, und mein Herz klopfte derart, daß ich mit Ersticken rang. Dabei hatte ich die merkwürdige innere Gewißheit, der Versuch sei gelungen.

Ich blickte auf die Uhr und merkte die Zeit. Dann bemühte ich mich noch stundenlang, irgendwelche Erinnerungen zu erspähen, die mir Aufschluß geben sollten, wie und auf welche Art ich femgewirkt hätte: alles wie in undurchdringlichste Finsternis getaucht. "Den Angelpunkt habe ich demnach gefunden!" sagte ich mir. Ich konnte den Tag nicht erwarten, so neugierig war ich.

Gegen 10 Uhr vormittags besuchte ich meinen Freund wie gewöhnlich. Ich lauerte, ob er mir nichts berichten würde. Vergebens: er sprach von allem möglichen, nur nicht von nächtlichen Erlebnissen irgendwelcher Art. Nach einer Weile fragte ich zögernd: "Hast du heute nacht nicht irgend etwas Sonderbares geträumt oder...?" "Das warst du?" unterbrach mich mein Freund. - Ich ließ ihn erzählen, ohne ihn mit einem Wort zu unterbrechen. Er berichtete: "Heute nacht kurz vor l Uhr (die Zeit stimmte mit der meinigen) erwachte ich plötzlich, aufgeschreckt durch ein lautes Geräusch im Nebenzimmer; es klang, als schlüge jemand mit einem Dreschflegel in rhythmischen Intervallen auf den Tisch. Als der Lärm immer heftiger wurde, sprang ich aus dem Bett und eilte ins Nebenzimmer und machte Licht. Kaum wurde es hell, da nahm auch das Geräusch sofort einen anderen Klang an; es war noch immer sehr laut, hatte aber einen fernen Ton wie ein Echo. Die Schläge kamen von dem großen Tisch her, der in der Mitte des Zimmers stand. Zu sehen war nichts Außergewöhnliches. Wenige Minuten später kamen meine Mutter und die alte Haushälterin voller Entsetzen hereingestürzt. Auch sie hatte der Lärm aus dem Schlaf geweckt; sie glaubten, es sei eingebrochen worden. Nach einer Weile wurde das Geräusch schwächer und schwächer und verstummte endlich ganz.

Kopfschüttelnd legten wir uns wieder schlafen." (Soweit der Bericht meines Freundes Artur v. Rimay; er lebt jetzt in Wien und kann jederzeit bestätigen, daß das, was ich hier schrieb, auf voller Wahrheit beruht.)

"Warum hast du mir alles das nicht gleich von selbst erzählt? Warum hast du gewartet, bis ich dich - allerdings nur mit vagem Tasten - darauf brachte? Es ist doch wirklich seltsam genug!?" fragte ich.

"Ich kann es mir selber jetzt nur so erklären", war die zögernde Antwort, "daß der starke Eindruck, den das Erlebnis in mir erweckte, während des darauffolgenden Schlafes sonderbar abgeflaut ist; ich möchte fast sagen, ich hätte alles nur geträumt - so in die Feme gerückt sehe ich es jetzt vor mir -, wenn ich nicht soeben vor ein paar Stunden beim Frühstück mit meiner Mutter darüber gesprochen hätte. Sag', hast du wirklich durch eine femwirkende Willensanstrengung den Spuk zuwege gebracht?"

Zum Beweis hielt ich ihm einen Zettel hin, auf den ich in Schlagworten noch in der Nacht alles aufgeschrieben hatte, was ich unternommen.

So seltsam das Vorkommnis an sich war, bedeutsamer noch erscheint mir der Begleitumstand, daß es so befremdlich anders im Gedächtnis meines Freundes haften geblieben war, als es etwa bei einem alltäglichen Erlebnis der Fall gewesen wäre. Normalerweise dürfte man doch annehmen, es hätte sich schon wegen seiner Sonderbarkeit im Gegenteil noch weit tiefer in die Erinnerung einbrennen müssen! Später habe ich in ähnlichen Fällen und insbesonders bei spiritistisch-mediumistischen Sitzungen feststellen können, daß magische Begebnisse stets leicht im Gedächtnis verankert sind oder die Neigung zeigen, sich schnell loszulösen.

Einige Jahre später war ich schwer krank. Ich fuhr vom Sanatorium Lahmann bei Dresden per Bahn nach Prag. Ungefähr in Pirna angelangt, fiel mir im Abteil plötzlich zu meinem Entsetzen ein, daß ich meiner Verlobten - meiner jetzigen Gattin - etwas für uns beide äußerst Wichtiges zu schreiben vergessen und außerdem den Brief in ihre Wohnung, statt wie sonst poste restante, adressiert hatte. Beide Mißgriffe konnten unsere ganze Zukunft zerstören!

Ein Telegramm abzuschicken, war aus verschiedenen Gründen unmöglich. Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Unmöglich, eine Rettung aus der Situation zu finden! Da fiel mir mein einstiges Experiment mit meinem Freunde Artur v. R. ein. Was damals geglückt war, konnte doch ein zweitesmal gelingen! Nein: es mußte gelingen, denn alles stand auf dem Spiel! Ich nahm mir vor, bei "ihr" zu erscheinen - bei hellem Tageslicht! Aber wie? Im Spiegel, kam mir ein Gedanke. Ich will und werde bei ihr erscheinen -beschloß ich - mit warnend erhobener Hand und ihr den Gedanken einflößen: das und das sollst du tun! -

Ich formte den Befehl in klare Worte und stellte sie mir in Feuerschrift geschrieben mit geschlossenen Augen solange vor, bis sie sich in der Imagination nicht mehr sogleich wieder verwischen konnten.

Jetzt handelte es sich nur noch darum, so rasch wie möglich einzuschlafen und mich nach Prag zu versetzen! Das Herz zum Sendeapparat zu machen, indem ich seine Schläge verlangsamte: das war der Schlüssel, und dabei die Sinne abziehen von der Umgebung! Die Augen kann man ja schließen, aber wie die Ohren zumachen, wenn links und rechts schnatternde Weibsbilder sitzen?!

Ich flehte mein Gehirn förmlich an: so mach mich doch taub, alter Kamerad! - Das Gehirn schien selbst taub zu sein. Endlich tat mir, so schien's mir, das Herz den Gefallen, denn wiederum, wie einst, fiel ich mit einem Ruck in tiefen Schlaf.

Wenige Minuten darauf erwachte ich. Mein Puls war diesmal außerordentlich langsam; ich schätze: höchstens vierzig! Dabei ein Siegesgefühl, so tröstlich und beseligend, wie ich es im Leben nur selten empfunden habe! Ich wollte der Probe halber Gedanken des Zweifels in meiner Brust erzeugen, um zu sehen, wie widerstandsfähig mein Sicherheitsempfinden sei: ein Lachen entstand in meinem Körper, als frohlocke all mein Blut.

Als ich in Prag ankam, war mein erster Weg zu meiner Verlobten. Die Gedankenübertragung war restlos gelungen! Sie erzählte mir folgendes: "Nachmittags um die gewisse Zeit, etwa eine halbe Stunden nach dem Essen, hatte ich mich auf den Diwan gelegt, denn eine merkwürdige Müdigkeit überfiel mich. Ich war kaum eingeschlafen, da fühlte ich mich gerüttelt und erwachte. Mein Blick fiel auf..." ("Auf den Spiegel!" unterbrach ich.) "Nein: in meinem Zimmer hängt kein Spiegel", sagte meine Verlobte, "nein: auf einen polierten Schrank neben dem Sofa. Im Glanz seiner Oberfläche sah ich dich stehen als eine ungefähr zwei Spannen hohe Figur, in einen hellen Mantel gehüllt, die Hand warnend erhoben. Gleich darauf verschwand das Bild." Aus der weiteren genaueren Besprechung, die wir hielten, ging hervor, daß meine Frau alles getan hatte, was ich gewünscht; noch viel ausführlicher und besser, als ich es geplant. Und das, was sie hatte tun sollen, war keineswegs einfach und wäre ihr kaum von selbst eingefallen, denn sie hätte gewisse Einzelheiten vorher wissen müssen (was durchaus nicht der Fall war). "Ich habe wie unter einer Eingebung gestanden", so sagte sie mir.

Der mittelalterliche Magier Agrippa von Nettesheim hat den Satz geprägt: "Nos habitat non tartara sed nee sidera coeli: Spiritus in nobis qui viget, illa facit." Zu deutsch: "Nicht Gestirn noch Unterwelt: in uns allein der Geist ist's, der alles bewirkt."

Ein Leitstern ist mir dies Motto geworden für mein ganzes Leben.