Der deprimierte Flaschengeist
Ich glaubte, eine Flaschenpost gefunden zu haben, als ich ein bauchiges, altertümlich
wirkendes Glasgefäß in meinen Händen hielt. Beim vergeblichen Versuch,
sie zu öffnen, glitt sie mir aus der Hand und zerbrach.
Aber ich fand keinen Zettel. Stattdessen umgab mich plötzlich eine rotbräunliche
Wolke, die mich vorwurfsvoll anstöhnte (nein wirklich!) und rasch zu einer zwei Meter
großen, menschenähnlichen, sehr deprimiert wirkenden Gestalt wurde.
"Ich bin es ja gewohnt, zu egoistischen Zwecken ausgebeutet zu werden, aber dass du mich
auch noch heimatlos machst - das ist bitter!"
"Du warst doch in der Flasche eingesperrt. Freust du dich denn nicht, frei zu sein?"
"Überhaupt nicht, ich habe zu schlechte Erfahrungen mit meinen sogenannten
Befreiern gemacht", sagte der Geist, der übrigens Magramel hieß, und begann,
mir sein Leid zu klagen.
"Ich diente einmal einem König namens Ognaruts, der mich fand. Er genoss die
Huldigungen seiner Untertanen, und da viele Untertanen auch viele Huldigungen bedeuteten,
eroberte er - gegen mein Anraten, aber mit meiner Hilfe -sämtliche Nachbarstaaten.
Niemand war glücklich, nicht einmal er selbst. Am Ende wurde er umgebracht. Mein
nächster Finder und Meister war der Kaufmann Bahudhana, dem ich widerwillig
unermeßlichen Reichtum bescherte, während das Land in Armut versank.
Schließlich verhungerte er inmitten all seiner Schätze - vor lauter Geiz.
Und so ging es weiter - ein Wissenschaftler wollte von mir die Formel ewiger Jugend
- und wurde wahnsinnig, ein Weinliebhaber soff sich zu Tode, Künstler wurden
taub und blind, weil sie die Grenzen des Hörens und Sehens überschritten.
Alles geschah gegen meinen Rat - aber durch mein Zutun.
Ich bin es leid, wieder und wieder in die Hände von Dummköpfen oder gar
Verbrechern zu fallen, die mich zwingen, Unheil zu stiften.
Da bleibe ich doch lieber in meiner Behausung. Solange ich eingesperrt bin, bin ich frei."
Daraufhin fragte ich: "Du weißt doch, wenn etwas schlecht ist. Warum sagst du dann
nicht einfach Nein?" "Es ist gegen unsere Natur, glaube ich", erwiderte er traurig.
Am Abend trank ich eine Flasche außerordentlich guten, teuren, alten und schweren
Rotwein, denn ich hatte Magramel versprochen, sein zerstörtes Heim zu ersetzen
- nur Flaschen mit solchem Inhalt eignen sich als Wohnstatt von Flaschengeistern.
Tags darauf erfüllte ich (trotz außerorderlichem Brummschädel) seine Bitte:
Ich vergrub die Flasche, in der er sich wohnlich eingerichtet hatte, an einem Ort,
den ich niemals preisgeben werde. Und ich gelobte, zurückzukehren, sobald er
sicher sein kann, in Freiheit ausschließlich Gutes tun zu dürfen.