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Das Nachtgespräch des Kameralrats Blaps
»Sagen Sie, Cyprian: vorhin, als Sie unter den Ahnenbildern dort drüben an der Wand mit dem Wedel
das Porträt meines Urgroßvaters abstaubten, murmelten Sie vor sich hin:
Herr Kameralrat Blaps
Nein, nein, Sie brauchen sich deshalb nicht zu entschuldigen! Mich interessiert nur, wieso mein
Urgroßvater zu diesem sonderbaren Beinamen kam.«
»Gnädiger Herr, ich weiß nichts Genaues darüber; ich erinnere mich nur, vor siebzig Jahren, als
ich noch ein kleiner Bub war, wurde mein Großvater als treuer Diener der Vorfahren des gnädigen
Herrn immer sehr bös, wenn die Dienerschaft von dem seligen Herrn Kameralrat als vom alten Herrn
Blaps sprach, wenn abends gelegentlich am Gesindetisch wieder einmal die Rede ging, er sei gar nie
wirklich gestorben, sondern habe sich nur tot gestellt wie ein wie ein nun, eben wie einer der
schwarzen mandelgroßen Totenkäfer, wenn man sie fängt oder auch nur fest ansieht, und die im
Volksmund den Namen Blaps führen.«
»Es ist gut, Cyprian, gehen Sie jetzt schlafen, hinüber ins Herrschaftshaus. Ich will für die Nacht
allein sein. Kommen Sie erst morgen früh wieder her ins Schloß und holen Sie mich mit dem
Rollstuhl ab. Zünden Sie noch einige von den alten dicken Wachskerzen an und stecken Sie sie in den
Kandelaber dort unter den Bildern. Nein, ich brauche nichts mehr; Sie müssen nicht in Sorge um mich
sein. Gute Nacht.«
Wie seltsam doch im Menschen, wenn er im hohen Alter steht wie ich, die Bilder der Erinnerung
ihre Farbe wechseln; das Gestern verblaßt in Nichts, und was viele, viele Jahre versunken schien,
das erwacht zu strahlendem Bunt! »Blaps mortisaga, der Totenkäfer«, so entsinne ich mich plötzlich
so scharf und grell, als seis vorgestern gewesen in einer Schulstunde vor wohl 70 Jahren und
länger unsern Lehrer sagen gehört zu haben, wobei er mit seinem Stab erklärend auf das
Unterrichtsbild von Schmetterlingen und Käfern auf einer Papptafel deutete: »So heißt auf lateinisch
dieser schwarze Käfer, der häufig in Kellern und alten Gebäuden vorkommt und sich von allerlei
Staub und Moder nährt.« Ist die Erinnerung an dies kleine belanglose Schulerlebnis mit einem Male
deswegen so deutlich in mir erwacht, weil vorhin der alte Kammerdiener Cyprian den Namen
»Blaps« aussprach, oder weil ? Halt, jetzt weiß ichs: habe ich doch vor einer Minute zu meinen
Füßen einen solchen Käfer liegen sehen, habe ihn aufgehoben, betrachtet, als tot befunden und wieder
fallen lassen!
Merkwürdig: beschworen hätte ich, daß er soeben noch dort lag; und jetzt ist er fort!
Aber möglicherweise bilde ich mir alles nur ein. Wenn ein Geschehnis zu nahe an die Gegenwart
grenzt, schwankt mein Gedächtnis
Durch meine Jugendzeit verfolgt mich in den Träumen das
Bild meiner kleinen Lieblingsschwester; ich sehe es rot, blutrot, und kann die Farbe nicht abwischen;
denn kaum will es mir gelingen, da höre ich meine Großmutter mit irrem Blick die Worte vor sich
hinsagen: »sie ist am Scharlach gestorben.« Meine Kinderseele müßte ersticken vor Leid, wenn ich
früge: »was ist das?« Ich will drum nicht fragen; ich weiß doch: Scharlach ist rot.
Diesmal ist es Wirklichkeit und nicht Einbildung, daß ich schwarze Totenkäfer, eine ganze Schar,
über den weißen Marmorfußboden huschen sehe! Ein scheußlicher Gedanke überfällt mich: dieselbe
Lebenskraft, die einst vor Jahrhunderten die Bewohner des Schlosses, Männer und Frauen, beseelt hat
und von ihnen wich beim Tode, ist auf diese grauenhaften Tiere übergegangen und treibt sie umher in
der Nacht. Und sie, die einstigen menschlichen Träger, hängen als leblose dunkle Ahnenbilder an den
Wänden und blicken mit toten Augen auf mich hernieder. Ich sehe sie heute zum erstenmal, und sie
sind mir so fremd wie ich ihnen; obwohl mein Urgroßvater eine geheime Absicht damit verknüpft hat,
als er in seinem Testament bestimmte, das Schloß dürfe erst dem seiner Nachkommen geöffnet
werden, der den 80. Geburtstag begehe? Ist es denn so sicher, daß mein sonderbarer Entschluß, die
erste Nacht nach Eröffnung des alten Ahnenschlosses allein hier in den Räumen zuzubringen, die
schon meine Kinderseele mit brennender Neugier erfüllten, meinem freien Willen entsprang? Waren
es nicht vielleicht die geheimnisvollen Befehle des Ahnen, die das Jahrhundert überlebt haben und
mich umschwebten, unhörbar, seit Kindesbeinen und mich herzwangen unter Nachtkäfer, die sich tot
stellen, wenn man sie ins Auge faßt? Warum halte ich so beharrlich die Dose in der Hand und kann
sie nicht loswerden?! Hat er daraus Tabak geschnupft? Das Pulver darin ist bunt, und ein dünner
Schwefelfaden liegt dabei, wie einst die Alten dergleichen benützten, als es noch keine Streichhölzer
gab. Nein, es ist kein Tabak; es wird ein Räucherwerk sein! Ich werde es anzünden. Später. Mir
fällt ein: als ich ein reifer Mann geworden war, kam mir das Gerücht zu Ohren, mein Urgroßvater
hätte heimlich Alchimie betrieben und mit sonderbaren Räuchereien hantiert, um das Lebenselixier zu
finden. So mag wohl auch das Gerücht entstanden sein, er sei nie in Wirklichkeit gestorben! Kalt wird
mir da ums Herz, und ich sehe wieder deutlich vor mir, wie wir Kinder im Halbkreis um die
Großmutter herumsitzen, sehe, wie sie sich die wirren grauen Haarsträhnen aus der Stirne streicht
und den Kopf schüttelt, und höre sie geistesabwesend sagen: »Sie reden mir vor, er sei gestorben. Ich
glaubs nicht. Als er in seinem Lehnstuhl saß, mit starrem Antlitz, eiskalt, und sich nicht mehr regte,
und der Arzt kam und sagte, er sei tot, da lächelte plötzlich sein Gesicht spöttisch und blieb so noch
im Sarg. Der Arzt sagte, das käme bei Toten vor. Ich glaubs nicht; die Lebenden sind dumm.«
Hab ich mirs doch gedacht! Es ist ein Räucherwerk! Der Schwefelfaden ist verglommen, und aus
der Dose schwelt ein bunter Rauch? Warum kreischen plötzlich die Eisentüren in den Angeln? Es
wird wahrscheinlich der Cyprian sein; es läßt ihm keine Ruhe, er will nach mir schauen. Schade, und
ich wollte mich gerade zu dem Karussell hinschleichen, das ich von dem Hügel aus gesehen habe, und
mich auf den Holzschimmel setzen und lang drauf im Kreis herumreiten, selbst auf die Gefahr hin, von
den Herrschaften ein alter Esel genannt zu werden. Und jetzt kommt mich der Cyprian stören! Aber
ich weiß schon: ich werde mich schlafend stellen oder besser noch: tot, damit er wieder geht!
Warum beugt er sich denn plötzlich so tief über mein Gesicht? Faßt meine Hand und läßt sie mit
einem Schrei wieder fallen? Läuft hinaus und ruft um Hilfe? Und jetzt steht mit einem Mal die ganze
Dienerschaft mit Windlichtern um mich herum und weint! Aufwecken möchten sie mich, aber sie
werden kein Glück damit haben! Ich lasse mich nicht abhalten, auf dem Schimmel im Kreis
herumzureiten; ich will wieder ein Kind sein und mit meinen lieben Geschwistern spielen! O nein,
ich stelle mich weiter tot. So tot, daß mein eigener Körper daran glaubt. Wenn ich nur das verdammte
Lächeln unterdrücken könnte! Aber hoffentlich merken sie nichts; die Lebenden sind ja so schrecklich
dumm!