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Spiegelbilder

Eine seltsame Nachtkaffeeschenke, in die ich da zu so später Stunde geraten bin! Sooft ich den Kopf zu dem trüben Wandspiegel wende, der dort in der Dunkelheit irgendwo vor mir hängt, sehe ich, wie durch ein schwarz umrändertes Loch im Raum, in eine Art Nebenzimmer hinein, darin zwei weißbärtige Männer mit langen, dünnen holländischen Gipspfeifen in pergamentgelben Fingern regungslos auf ein Schachbrett starren, das, wie sie selbst, frei in dem dichten bläulichen Tabakrauch zu schweben scheint, denn nichts sonst ist erkennbar, weder Stuhl noch Tisch noch Wand. – Vielleicht ist’s nur ein Bild ohne Rahmen, das dort drin hängt, sage ich mir vor, um das Gefühl einer beklemmenden Unwirklichkeit zu verscheuchen, das mich jedesmal befallen will, wenn ich nach längerem Zeitablauf keine Änderung in dem Anblick festzustellen vermag. Morgen früh geht dein Schiff, gesellt sich, wie zum Trost, dann ein Begleitgedanke in meinem Hirn hinzu; aber es rührt mich nicht an wie die gewisse Hoffnungsfreudigkeit, aus einer mir fremden, unheimlichen, toten Hafenstadt fortzukommen, die mich in einem ihrer abgelegensten Winkel hier festhält, wie eine Falle die Maus – nein, es ist ein dunkler Geschmack dabei, und es raunt etwas Zweideutiges in diesem Gedanken, so, als ob dieses Schiff, das morgen früh mit mir wegfahren soll, die Fähre des Charon sei, den Styx zu überqueren, um hinüber ans »andere Ufer« zu gelangen – an das Ufer, das ein Land umgrenzt, ähnlich dem unsrigen, wie ein Spiegelbild dem Wirklichen … Ich bohre meinen Blick hinaus durch die Fensterscheibe auf die nebelhauchende Wassergracht, die dicht ans Haus grenzt und mit dem schwarzen Himmel in einen gähnenden Raum verschwimmt, darin Höhe und Weite einander verschlingen. Im Fensterglas spiegelt sich gespenstisch der schattenhafte Umriß eines langsam dahingleitenden riesigen Kohlenkahns mit einer winzigen roten Buglaterne. Ich kann nichts sehen, das mir verriete, das Boot treibe draußen auf dem Wasser vorbei – es schwimmt – – ja, es schwimmt wahrhaftig innen im Zimmer, in dem ich sitze. So bin ich denn entrückt in die Welt der Spiegelungen, kommt mir halb und halb zu Sinn, und wie zur Bestätigung tauchen alte Erinnerungen in mir auf: ein weißer Kirchturm, grell sich in Wassern spiegelnd, eine eiserne Brücke über einem Fluß, darauf ich als Schuljungen mich selber gehen sehe, und ein sonnenbeglänztes Alpendorf an einem See.

Aber ich will nichts wissen von den vergangenen Erlebnissen meiner Jugendzeit, die mich jetzt anfassen wie Spiegelbilder! Wie Begebnisse mich anfassen, die außer mir selbst keine lebenden Zeugen mehr haben! Morgen geht mein Schiff! Dann wird das Heute auch nichts anderes mehr sein als ein – Spiegelbild! Und ich wende mein Gesicht wieder zu dem viereckigen Loch, hinter dem im Spiegel die beiden Schachspieler sitzen; will mich festklammern an die Gegenwart, und sei sie noch so regungslos und tot. – – Der eine der Greise hat sein Gesicht mit der runzligen Hand bedeckt; der andere richtet seine Augen auf mich. Oder hat er mich immer schon so angeblickt seit Anbeginn? – Natürlich, immer schon hat er mich so angesehen! Schon vor vielen Jahren! – Ist es eine merkwürdige, unheimliche Ähnlichkeit, die mich da narrt?! In einem Hause, das längst niedergerissen ist und dessen unterstes Stockwerk ein Nachtcafé barg, saß einst vor langer Zeit ebendieser Alte mir oft und oft gegenüber am Schachbrett, und wir spielten mitsammen die verwegensten Partien, unbeirrt in unserer Nische von den Bassermannschen Gestalten, die sich bis zum Morgengrauen dort umhertrieben.

Dr. Narziß hieß allgemein in der Stadt, in der ich damals gelebt, der Alte. Nach seinem wirklichenNamen hat ihn wohl kaum jemand gefragt. Was kümmert einen auch der Name eines Menschen, der, abgerissen und schäbig gekleidet, ohne anscheinend einen Beruf zu haben, sich in Kaffeespelunken umhertreibt und von den paar Kreuzern lebt, die er sich durch Schachspielen ergattert! Man sagt, er sei in seiner Jugend ein armer Student der Philosophie gewesen. – Wie er zu dem sonderbaren Spitznamen Narziß kam, wo er doch nichts weniger als schön war oder je gewesen sein konnte, weiß ich nicht. Ich vermute, es muß ihn jemand so genannt haben, den er in seine fixe Idee einweihte, so wie er mich einst ins Vertrauen zog.

In einer Nacht am Weihnachtsfest zog er mich ins Vertrauen, als eine Schachpartie unentschieden geendet hatte und wir einander stumm ansahen, so wie der Alte im Nebenzimmer und ich in dem dunklen Raum vor dem erblindeten Spiegel uns jetzt ansehen. Plötzlich sagte damals Dr. Narziß – und ich höre es so deutlich, als spräche der Alte –: »Unentschieden! Das erstemal in meinem Leben, daß ich eine Partie nicht gewonnen habe. Bisher habe ich alle Partien im Leben gewonnen – auch die Partie, in der es nicht um Schach ging!« Dabei hatte Dr. Narziß an sich heruntergesehen wie jemand, der nicht sicher ist, ob er wirklich vorhanden ist, dabei lange und nachdenklich seine ärmlichen Waterproofschuhe gemustert, die er immer trug, auch wenn es Winter war. Dann fuhr er geistesabwesend fort, mit sich selber redend, und ich hatte den Eindruck, als hätten sich ihm die Sinne verwirrt: »So wie Sie jetzt, sehr geehrter Herr Schachpartner, da vor mir sitzen, so saß einmal in einer gewissen Nacht, als ich noch ein armer Student war und mir das Gehirn im Kopf zerlernte, bis ich es verlor, ich selber mir gegenüber. Jawohl: Tatsache, ich saß mir selber gegenüber! Im Spiegel natürlich! Daran wäre nichts Besonderes, werden Sie sagen. Aber«, – hier war Dr. Narziß plötzlich recht geheimnisvoll geworden – »aber das Besondere ist, daß, als wir beide – der im Spiegel und der davor – aufstehen wollten, nur einer übrigblieb; aber nicht der, der sich das Hirn kaputtgelernt hatte, sondern der, der es im Spiegel nachgemacht hatte. Und dieser bin ich … Nein, nein, mein Herr, es ist kein Scherz! Wenn ich nicht derjenige wäre, der damals im Spiegel gesessen hätte, so müßte ich doch wissen, was der andere außerhalb des Spiegels eigentlich ein ganzes junges Leben hindurch, bis er daran zugrunde ging, gebüffelt und auswendig gelernt hat! Aber ich weiß es nicht! Und daraus schließe ich mit vollem Recht, daß ich doch nur jener sein kann, der im Spiegel ihm zusah! Ich kann doch nur Schach spielen; was es sonst noch an Wissen auf der Welt geben mag, ist mir glücklicherweise fremd geblieben.«

Jene unentschieden gebliebene Schachpartie, die ich in jener Nacht mit Dr. Narziß gespielt hatte, war meine letzte mit ihm; ich wich ihm aus, wo ich konnte, denn es ist ein krank machendes Gefühl, zu wissen, man hat einen Geistesgestörten zum Schachpartner. – –

Ich entließ die alte, quälende Erinnerung und starrte wieder hinaus auf die finsterschwarze Wasserstraße, wobei mir einer schattenhaft aus der Fensterscheibe entgegenspähte, der natürlich nur ich selber sein konnte; da hörte ich plötzlich, daß der eine der alten Herren im Nebenzimmer zu reden angefangen hatte, und ich vernahm die Worte: »… Man denkt zuwenig darüber nach, wie seltsam es ist, daß der rechten Hand, die man vor dem Spiegel hält, sofort eine linke antwortet! Sieht man seine ganze Gestalt im Spiegel, so ist man doch gar nicht der, den man darin sieht, sondern vielmehr ein Gespenst, das einem fremder ist, als irgend etwas auf Erden sein kann! Was rechts ist, das wird links! Nicht alle von uns wissen, daß es einen sogenannten ›Meister der linken Hand‹ gibt, von dem das Gerücht unter Abergläubischen geht, er – und nicht der Gott der Bibel – habe die Welt erschaffen! Ein beklemmender Gedanke, annehmen zu müssen, unsere Welt hier auf Erden sei am Ende nichts anderes als eine satanische Spiegelung einer Wirklichkeit, von der wir im Grunde nichts, rein gar nichtswissen! Da haben wir beide nun eine halbe Nacht vor dem Brett gesessen und bildeten uns ein, wir hätten Schach miteinander gespielt; in Wahrheit war’s vielleicht nichts anderes, als daß wir Züge nachmachten, wie Spieler in einer Spiegelwelt! ...«

Die letzten Worte, die darauf folgten, überhörte ich; ich blickte mich um; das Zimmer, in das ich durch die offene Verbindungstür aus meiner Dunkelheit hineinsah, war leer. Die alte Kellnerin mit dem weißen Häubchen kam mir daraus entgegen, trat zu mir an den Tisch und sagte: »Darf ich das Schachbrett abräumen, Mijnheer?«

»Wo sind die beiden Herren hingegangen, die soeben noch dort drin saßen?« fragte ich verwirrt.

»Die beiden Herren?« war die Antwort. »Das Nebenzimmer war doch die ganze Zeit über leer!« ...

Ich zahlte stumm, zog meinen Mantel an und ging. »Morgen fährt mein Schiff ab«, sagte ich mir beständig vor und ließ nicht ab, es mir vorzumurmeln, um nicht grübeln zu müssen: Wer war der andere der beiden Alten, die miteinander Schach gespielt hatten – der, dessen Gesicht ich nicht unterscheiden konnte, weil er es beständig mit der Hand verdeckt hielt? Sein Partner – der, der die Worte gesprochen hatte – war Dr. Narziß, so wie er in meinem Gedächtnis verborgen lebte. Aber wer war der andere?