Online-Quelle: scribd.com
Der Sulzfleck im Karpfenwinkel
Als eines Tages die zahlreichen Mitglieder des Ruderclubs "Hydrophilus" ein Rundschreiben der Vorstandschaft erhielten, worin stand, daß
der alte Korbinian Hugendubel tot in der Clubjolle im Sulzfleck des Karpfenwinkels treibend aufgefunden worden und 24 Stunden später, seinem
schriftlich hinterlassenen Wunsch gemäß, nach ehrwürdigem Seemannsbrauch an jener Stelle des Sees, in die Clubflagge eingenäht, versenkt worden
sei - wozu die zuständige Behörde nur nach längerem Widerstreben ihre Einwilligung gegeben hätte -, da schüttelten alle
Herren ratlos den Kopf, denn keiner wußte, wer Korbinian Hugendubel gewesen war. Der alte neunzigjährige Mann hatte seit Menschengedenken
den Spitznamen "Dr. Bompus" getragen, war seit Jahrzehnten Bootsdiener gewesen, und sein wirklicher Name sowie die Tatsache, daß er einst
selber zu den Herrenruderern, und zwar zu den hervorragendsten gezählt, schien nicht nur für die anderen, sondern sogar für ihn
selbst eine Angelegenheit verwehter Zeiten geworden zu sein.
Warum man ihn allgemein "Dr. Bompus" nannte? Vermutlich, weil ihn die Yachtclubmatrosen und andere Seeufercharaktere so getauft hatten. Der Name
sollte soviel heißen, wie Bonbon; der alte Mann pflegte nämlich im "Sulzfleck des Karpfenwinkels" jedesmal, wenn der Vollmond am Himmel
stand, stundenlang in der Nacht zu angeln und seltsamerweise dazu als Köder Bonbons, die er für die reichlichen Trinkgelder, die er
erhielt, in Massen kaufte, zu verwenden.
Angelhaken benützte er, wie man wußte, dabei nie. Er ist eben ein Narr, sagte man sich, und seine Bemerkung, "so unmenschlich werde
ich doch nicht sein", fand nie Verständnis.
An den Tagen nach solchen Anglerfahrten strahlte er immer vor innerem Glück, und wenn ihn die jungen Herren der Jugendabteilung dann nach
der Ursache fragten, lächelte er stummselig oder sagte auch bisweilen: "Mathilde nascht so gern."
"Er bildet sich wahrscheinlich ein, irgendeine weibliche Wassergottheit nimmt sein gebrachtes Opfer an Zuckerzeug in Gnaden an", vermutete einst
ein findiges Clubmitglied und, als man das in Zweifel zog, zumal "Bompus" ansonsten überaus klug, ja sogar als ehemaliger Student der
Philosophie sehr gebildet war, so beschloß man, eine Probe anzustellen, ob er denn wirklich nicht begreife, daß sich die Bonbons auf
ganz natürliche Weise, wenn er mit ihnen angle, im Wasser des Sees auflösten. Man schmuggelte einige längliche, stangenförmige
Kieselsteine, die man mit Zuckerguß überzog, in seinen Bonbonködervorrat, so daß sie an der Angelschnur bleiben mußten,
wenn er diese nach vollbrachter Fischerei wieder emporzog.
Das Ergebnis dieser heimtückischen Fopperei soll erstaunlich gewesen sein. Es heißt, der Alte wäre eine Zeitlang wie von Sinnen
gewesen und hätte sich mit Selbstmordgedanken getragen. "Mathilde muß schwer erkrankt sein; sie nimmt die Bonbons nicht mehr an" -
hätte er bisweilen händeringend ausge rufen. - So erzählt man sich wenigstens im Club. Ob sich die Sache damals so oder anders v
erhielt, läßt sich heute nicht mehr nachweisen. Tatsache ist, daß in den Logbüchern des Ruderclubs "Hydrophilus" vor siebzig
Jahren steht, mit ausführlichen memoirenartigen Zusätzen von der Hand Korbinians geschrieben, der damaliger Zeit der Stolz des Vereins
als erstklassiger Skiff-Fahrer war:
"Nach fast zweijähriger schauderhaftester Schinderei im Training ist es mir heute endlich gelungen, meinen anfänglichen
Rekord von 7:59 auf 7:10 über zweitausend Meter im Skiff bei windstillem Wetter herabzudrücken. Die Sportblätter sagen, daß
selbst der fabelhafte Kanadier Erward Hanlan keine bessere Zeit als 7:22 erzielt hat. Das Blut hämmert mir gegen die Schläfen! So
wäre ich also besser als er das größte Ruderphänomen, seit die Welt erschaffen wurde! Und da soll man bereuen, alles dafür
hingegeben zu haben?! Studium, Wein, Tabak und sogar die Liebe? Liebe und der übrige Plunder, was ist das überhaupt? Ein Hindernis auf
dem Weg zum Weltrekord - weiter nichts. - Nur eins ist mir ärgerlich - oder soll ich es nicht Aberglaube, sondern ein albernes Spiel des
Zufalls nennen? So genau ich auch bei den Trainingsfahrten auf das Ausscheren mit den Ruderblättern achte, so richtig ich auch beim Einsatz
mit den Schaufeln Wasser fasse, um beim Anrollen des Sitzes dem Boot keinen Gegenschwung zu geben, und so schwellend ich auch durchziehe: nie
bringe ich den Rekord unter 7:25, wenn ich nicht vor der Fahrt eine geradezu gotteslästerlich abergläubische Handlung vornehme. Der
englische Esel und Trainer Perkins behauptet nämlich, wenn man eine Zeit unter dem Menschenmöglichen - also unter 7:22 wie Hanlan -
erzielen wolle, dann müsse man vorher ein Stück Zucker ins Wasser werfen. Warum das so sei, wisse er selbst nicht, aber er hätte
es früher an sich selbst erprobt. Später, als er dann geheiratet habe,hätten auch die Zuckeropfer nicht mehr geholfen, woraus er
schlösse, daß die Wassernixen oder wer sonst sich da durch Süßigkeiten zur Mithilfe bei Regatten bestechen ließe,
außer der Genäschigkeit auch der Eifersucht fröhnten. - Meinen Vorhaltungen, die Sache sei doch klar: es hätte sich eben in
seinem Falle um die Folgen eines Bruches des Keuschheitsgelöbnisses und nicht um metaphysisches Zutun von Nixen gehandelt, setzt er nur ein
verächtliches Achselzucken entgegen. - Was soll ich nun tun? Soll ich wirklich jedesmal vor einem Rennen ein Bonbon oder ein Stück
Schokolade ins Wasser werfen? Schmälere ich dadurch nicht, wenn ich gewinne, meinen einzigen Ruhm? Nein, ich käme mir vor wie der
König Günther, dem ein unsichtbarer Siegfried mit der Tarnkappe einen Weitsprungrekord ermöglicht!"
Ein Jahr später findet sich im Logbuch folgender Vermerk: "Internationale Regatta am 15. Juli... Meisterschaft im Skiff: Emil Piefke,
Ruderclub.Sport', Berlin, 7:24 Erster; Korbinian Hugendubel knapper Zweiter 7:25. - Hugendubel anfangs weit führend, läßt
plötzlich nach.
Es ist, als würde der Schuß seines Bootes wie von unsichtbarer Hand gehemmt, denn seine Wasser- und Luftarbeit bleibt nach wie vor
gleich vorzüglich." (Dazu steht von Korbinians Hand hinzugekritzelt: Oh Gott, hätte ich doch einen Bonbon ins Wasser geworfen!")
Er hatte durch seinen Start gegen einen Berufsruderer seine Amateurschaft verloren und ließ sich, nach Bayern zurückgekehrt, bald
nachher als Bootsdiener im Club "Hydrophilus" anstellen. Von da an begann auch seine seltsame Gepflogenheit, Bonbons an eine Angelschnur zu binden
und nächtlicherweile damit im Karpfenwinkel zu "fischen". Aus gewissen Notizen, die er bruchstückweise in seinem Privatlogbuch anbrachte,
läßt sich (so stellte der Schriftführer des Vereins nach dem Tode des Alten fest), nachweisen, an welches Geschehnis im Leben
Hugendubels diese merkwürdige Geistesstörung anknüpft. Es heißt dort wörtlich:
"... es ließ mir also keine Ruhe mehr, und ich wollte erproben, ob es denn nicht möglich sei, die Zeit, die ich in Henley
mit 7:10 errudert hatte, noch weiter zu verbessern. Es war ein glühend heißer Mittag, und ich fuhr hinaus in den Karpfenwinkel' des Sees,
dessen windstille Wasserfläche so geeignet ist für Streckentraining. Ich warf diesmal drei besonders feine Bonbons ins Wasser und, als
der Zeiger der Stoppuhr auf eins" wies, ging ich mit einem mörderischen Tempo vom Start. Ich fühlte schon: diesmal erziele ich eine
Geschwindigkeit wie niemals früher, da bekam mein Skiff plötzlich einen so furchtbaren Ruck, daß ich vom Rollsitz fiel. Dennoch
kenterte ich nicht, denn ich hatte meine Skulls krampfhaft festgehalten. Ich erwartete, daß sich das Boot jeden Augenblick mit Wasser
füllen würde, denn ich glaubte, auf ein treibendes großes Stück Holz aufgefahren zu sein, wodurch naturgemäß der
Bug des Skiffs hätte zersplittern müssen. Doch nichts dergleichen war geschehen. Wie ich später feststellen konnte, war das vordere
Drittel des Bootskörpers mit einer Art Sulz überzogen. Sollte ich vielleicht einen Riesenfisch - einen Waller, oder ähnliches
gestreift oder gerammt haben? So fragte ich mich. Es wollte mir auch gar nicht mehr aus dem Kopf, warum eigentlich jene Stelle im See, die man
Karpfenwinkel nennt, im Volksmund seit unvordenklichen Zeiten der Sulzfleck' heißt."
Hier bricht der Bericht im Logbuch Hugendubels ab. Erst den Bemühungen des Schriftführers des Clubs, des Herrn Dr. K. Paungarten, der
in seinem Beruf Psychoanalytiker ist, gelang es, noch ein letztes Bruchstück in der Handschrift des Alten später aufzufinden. Es lautet:
"Wie oft habe ich selber den ruchlosen Witz gemacht: Was ist Phantasie? Antwort: Man steckt sich einen Heringsschwanz an, setzt sich in
eine Tonne mit Regenwasser und bildet sich ein, man sei die schöne Melusine. - Ich schäme mich heute bis ins Mark. Aber, wie hätte
ich auch nur im Traume denken können, daß es wirklich so etwas gibt wie schöne Melusinen, und noch dazu im Starnberger See! - Ich
hatte noch von jener denkwürdigen Fahrt her in der Mittagsglut den Sonnenstich und konnte mich kaum im Skiff halten vor Kopfschmerzen und
Schwindel, da fuhr ich wieder - aber diesmal in ganz langsamem Tempo - auf ein Hindernis im ,Sulzfleck' auf. Als ich mich umsah, erblickte ich ein
so wunderschönes nacktes Mädchen rittlings auf dem Bug meines Bootes sitzen, daß ich ganz von Sinnen kam...
Heute erst weiß ich, was Liebe ist!... Weiter noch Weltrekorden nachjagen? Wozu? Der Zweck meines Daseins hat sich erfüllt.
Oh, Mathilde! Ich werde noch heute der Vorstandschaft des Hydrophilus' ein Gesuch unterbreiten, mich als Clubdiener anzustellen. Dann werde ich
ungestört mit meiner Mathilde beisammen sein können und das heimlich süße Glück genießen, in den Augen der blinden
Menschen als Narr zu gelten und dennoch mehr, tausendmal mehr zu wissen und tausendmal größere Wonnen zu erleben als sie, die Armseligen..."
"Es liegt hier ein Fall von seelischen Komplexen vor" - begann Herr Dr. K. Paungarten -, nachdem er eines Sonntagnachmittags im Clubhaus diesen
Auszug aus dem Nachlasse Hugendubels wieder einmal verlesen hatte -, "der für den Gelehrten von höchstem Interesse ist und der Forschung
auf dem Gebiet der Psychoanalyse weite Perspektiven aufreißt. Der unerhört, bis auf den Gipfel des Unvernünftigen getriebene
Selbstzwang des Unglücklichen, seine eigenen Weltrekorde zu überbieten, dazu der widersinnige unbeugsame Entschluß, alle Regungen
zu unterdrücken, statt sie abzureagieren, mußte zu dem naturgemäßen Kollaps und der Überkompensation - ich hoffe, ich
drücke mich für den Laien genügend verständlich aus! - führen, den wir hier vor Augen haben. Sinnestäuschungen
bedenklichster Art mußten sich einstellen. Alles das beweist, daß Hugendubel..." "Blödsinn! Mannschaft, antreten!" unterbrach der
hinzutretende Ruderlehrer den Gelehrten. "Meier, kurbeln Sie das Motorboot an, wir wollen den Rennachter hinaus auf die Strecke begleiten. Der Herr
Doktor kann hier weiter quasseln."
Einige Tage später ging eine lustige Notiz durch die Wassersportblätter : "Offenbar Froschlaich!
Bei einer der letzten Trainingsfahrten des Ruderclubs "Hydrophilus" im Rennachter, begleitet vom Motorboot des Ruderlehrers Piefke junior, dem
Enkel des seinerzeit berühmten Skullers des Ruderclubs "Sport", Berlin, fuhren beide Boote in schnellster Fahrt im sogenannten Sulzfleck des
Karpfenwinkels plötzlich auf ein unsichtbares Hindernis so heftig auf, daß ein Teil der Mannschaft kopfüber ins Wasser geschleudert
wurde. Da keins der beiden Fahrzeuge Schaden nahm und überdies am Bug große Mengen von zähschleimiger Substanz aufwies, ist jetzt
endlich das Rätsel gelöst, warum jene Bucht unseres Sees ,Sulzfleck' heißt... Offenbar bildet sich zu gewissen Zeiten dort
Froschlaich in Massen." Nachschrift:
Von boshafter Hand stand mit Bleistift über das Exemplar des Sportblattes, das Herr Dr. K. Paungarten zugestellt erhielt, geschrieben:
"Bisher wurden Versulzungen nie im Seewasser, sondern lediglich im Gehirn von Psychoanalytikern festgestellt."