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Online-Quelle: scribd.com

Die Keimdrüse des Herrn Kommerzienrates

Eine Mondscheinsonate

Eine Stunde vor Mitternacht gebietet alltäglich die Polizei dem festlichen Treiben auf der Oktoberwiese ein grimmiges "Halt!". Nicht länger darf die Dame ohne Unterleib von ihrer bessern Hälfte getrennt sein, nicht länger mehr der Pfirsichkern- Weitspucker Matthias Niederhuber im Zelt Nr. 138 Weltrekorde überbieten mit der löblichen Absicht, infolgedessen Ehrenbürger sämtlicher Großstädte zu werden, und höchste Zeit ist's, daß der Reigen der sieben törichten Riesenjungfrauen, je zu siebenhundert Pfund Fett, innehält, die Sinnlichkeit streunender Familienväter bei Gasolinfackelschein in Glut zu fachen. - Die Staatsgewalt will es nun einmal nicht anders.

Wie ihr zum Hohn - als plötzlich gehorsam die Azetylenlampen vor den zahlreichen Buden erloschen - , ging rasch der käsegelbe Vollmond am östlichen Himmel auf und goß sein naßfahles Licht über die in Schlaf verfallende, zertrampelte Wiese, spähte hinein in den Kopf der Bavaria, des ragenden Wahrzeichens der Kunststadt München, durch ihr linkes hohles Auge - daraus der staunende Sachse tagsüber Bier-Athen zu bewundern pflegt -, suchte, scheinbar vergebens, eine Weile darin herum, gab's dann auf, da er außer Fledermäusen offenbar nichts Bemerkenswertes in dem Erzschädel fand, von dem er dem lieben Gott hätte berichten können, und stieg dann höher und höher, bis es ihm endlich gelungen war, senkrecht über dem Festplatz zu stehen und die unheimlichen Schatten der Zelte und Buden, der Gerüste, Karusselle und Bierfaßpyramiden tief hinab in die Erde zu scheuchen. - Schade, sagte ich mir, schade, daß die frohe Pracht so früh schon ihr Ende gefunden hat.

Trübselig setzte ich mich auf eine leere Kiste vor einem Latten-30 verschlag, darin an den Schöpfen baumelnd - nicht etwa "Retter" des Vaterlandes - nein: aus Kokosnüssen geschnitzte bärtige Menschenhäupter gingen, stumm zeugend, daß selbst im fernen heißen Afrika die Bildhauerei nicht schlummert.

Wie es gekommen sein mochte, ich weiß es nicht; plötzlich fühlte ich, jemand trat leise hinter mich und legte mir die Hand auf die Schulter. Als ich aufblickte, gewahrte ich, daß es keineswegs ein Schutzmann, sondern lediglich der Mond war.

Ein Arzt wird natürlich behaupten, ich hätte geschlafen und geträumt, denn der Mond besäße keine Hände. Ich erwidere darauf:

"Lassen Sie mich in Ruhe mit Diagnosen, Herr Doktor! Im übrigen verstehen Sie nichts von der Anatomie kosmischer Satelliten."

Also, kurz und gut: der Mond legte mir die Hand auf die Schulter. "Sie sind Schriftsteller - ", begann der Mond nach einer Weile und schloß mit einer lauernden Pause.

In meiner Angst, er könne am Ende gar ein lyrisches Gedicht bei mir bestellen - gratis natürlich -, entgegnete ich sanft, denn mit Himmelskörpern verdirbt man sich's nicht gern - höchstens mit Pastoren: "Nein, ich bin nur ein schlichter geistiger Arbeiter, der Münchens Volkskunst bewundert." - "Leugnen Sie nicht! Sie sind ein Dichter. Ich weiß es, trotzdem Sie mich bisher noch nie besungen haben", unterbrach mich der Mond, "aber weinen Sie doch nicht gleich...!"

So saßen wir eine Weile einander gegenüber, er auf einem leeren Bierfaß, ich auf meiner Kiste, und er blies weiße Rauchwolken über meinen Kopf hinweg. Ich gebe zu, es können möglicherweise nächtliche Nebelschwaden gewesen sein, aber Einwürfe des Arztes: "Selbstverständlich waren's solche", weise ich mit den energischen Worten zurück: "Herr Doktor, ich verbitte mir derlei Besserwissen ein für allemal! Hab' ich Sie gefragt? Na also!" Dem Mond schien meine schroffe Art ungemein zu gefallen, denn er zwinkerte mir verständnisinnig zu. "Haben Sie Lust, die Schaubuden ein wenig zu besichtigen?" fragte er laut, um das Peinliche der Stimmung zu verwischen, und deutete auf ein Zelt, darauf mit farbigen Glasstücken geschrieben stand:

Professor Boronoffs Affentheater.

Ich wunderte mich, denn, wie ich genau wußte, war es noch vor einer Stunde. "Die Erste Welt-Ochsenbraterei, ausgeübt von Xaver Knoblinger" gewesen. - "Nun, also!" schien es mir, wollte der zudringliche Arzt höhnen, aber ehe ich noch unwirsch antworten konnte: "Herr Doktor, wer redet? Sie oder ich?!", erklärte mir der Mond: "Lassen Sie sich nicht verwirren, mein Lieber, durch das, was Sie bei Tage gesehen haben! Ochsenbraterei? Wie schon der Name andeutet, kann das nur ein Symbol, zumal ein hinkendes, gewesen sein.

Unwirklich überdies, wie alles, was bei Sonnenlicht in die Erscheinung tritt" - er neigte sich zu meinem Ohr und flüsterte hastig, als fürchte er, irgend jemand - vielleicht der Arzt? - könne ihn hören: "Die Sonne selbst ist nämlich gar nicht wirklich, sondern nur ein Lichtreflex eines geheimnisvollen Dingsdas irgendwo in der Weltentiefe. Das, was heizt und leuchtet, ist lediglich eine Masse glühender Metallgase, die sich um dieses Irrlicht gebildet hat. Die Astronomen wissen das nicht: sie glauben, die Sonne sei ein Himmelskörper. - Ich hingegen" - er schlug sich so heftig und selbstbewußt auf die Brust, daß er einen rötlichen Hof um den Kopf bekam - "ich bin wirklich und der Vater aller irdischen Dinge. Ich schicke den Menschen die Gedanken und zugleich den Wahn, sie gebarten sie aus sich selbst. Wenn das Oktoberfest des Tages Wirklichkeit wäre, glauben Sie, die Münchener Polizei könnte ihm jedesmal um elf Uhr nachts ein Ende bereiten? - Kommen Sie jetzt, ich zeige Ihnen Professor Boronoffs Affentheater. Er ist ein Russe und daher mein besonderer Schützling. Das Affentheater aber ist mein Werk, daß Sie es nur wissen! Eine echt lunatische Schöpfung. Eine Attraktion ersten Ranges auf meiner Oktoberwiese! - Ich liebe es nämlich, Ebbe und Flut in der Weltgeschichte zu erzeugen", setzte er halblaut hinzu und grinste hämisch, seine Würde als Gestirn unwillkürlich ganz außer acht lassend.

Er schob die Vorhänge des Zeltes auseinander, und wir traten ein.

Ein schlanker, hochgewachsener Herr im Frack, mit bronzefarbigem spitzem Mephistogesicht, hielt gerade einen Vortrag. Atemlos lauschten seinen Worten ein überaus distinguiertes Publikum, bestehend, wie die edeln vergeistigten Mienen verrieten, aus lauter Kommerzienräten. Einen Augenblick unterbrach der Oktoberfest-Mephisto seine Rede, als er des eintretenden Mondes an meiner Seite ansichtig wurde, und machte ihm eine unmerkliche Verbeugung, doch schnell fuhr er fort:

"Durch meine Methode ist es also möglich, die lästigen Alterserscheinungen zu beseitigen und den Tod jedes einzelnen Chefs Ihrer hochangesehenen Firmen hinauszuschieben, so daß die Unsterblichkeit der Gattung der Großkaufleute bis ans Ende aller Zeiten gewährleistet wird! Bedenken Sie, was meine Entdeckung insbesonders für die Rheinlande zu bedeuten hat! Jahrhundertelang werden Sie ununterbrochen das Volkskapital einsammeln gehen können!" (Eine tiefe Begeisterung bemächtigte sich der Zuhörerschaft.) "Ich habe den Quell aller Verjüngung im menschlichen Körper gefunden, und zwar in den nun, nennen wir es kurz: in den - Keimdrüsen! Diese haben, wie Sie ja wissen, bisher nebenbei dazu gedient, es zu ermöglichen, daß die jeweilige Firma auf einen Leibeserben übergehen konnte. An und für sich war das nicht unerfreulich, aber wer konnte als Bürge girieren, daß dieser Leibeserbe auch immer aus der eigenen Keimdrüse stammte und nicht aus einer unerwünscht fremden?" (Zuruf aus dem Parkett: "Sehr richtig! Hört! Hört!") "Aber auch für den Fall einwandfreier Paternität bleibt ein Stachel zurück. Man erntet doch am liebsten selber, was man gesäet hat, nämlich die Firma. Bisher wurde der Träger der Firma sowohl wie der Keimdrüse unerbittlich hinweggerafft; sicherlich ein Übelstand, was das moralische Gesetz von der dauernden Erhaltung des Kapitals betrifft. Er sank, wenn auch unter Gepränge, ins Mausoleum. Wohl wußte man bislang: die menschliche Keimdrüse sendet einen Verjüngungssaft in den Körper aus, aber, ach, und das ist die erschütternde Tragik: die Drüse selbst wird alt und versagt den Dienst!" (Laute Seufzer in den Logen.) "Der heißeste Wunsch des Menschen war von jeher, die Unsterblichkeit zu erringen. Der Mensch ging damit gewissermaßen mit der Religion konform. Seltsame ahnungsvolle, aber auch zweideutige Wege wurden zu diesem Zwecke seit alters beschritten. So rieten zum Beispiel schon die Fakire Indiens betrübten Greisen, sich das Zungenbändchen durchschneiden zu lassen. In unseren Tagen schürfte Professor Steinach in Wien noch tiefer: er durchschnitt seinen Patienten sogar die Stränge der Keimdrüsen. Ein großer Schritt nach vorwärts, fürwahr, doch der Erfolg wog das gebrachte Opfer nicht auf." (Fistelstimme aus dem Publikum: "So ist's!") "Ein gütiges Geschick nun hat mir die wahre Lösung in den Schoß geworfen." (Dankbarer Blick des "Professor-Mephistos zu dem Monde hin.) "Dieses untergeordnete Geschöpf hier" - auf einen Wink des Meisters trat ein Schimpanse aus der Kulisse und verbeugte sich tief vor dem beifallzollenden Auditorium - "dieses untergeordnete Geschöpf wird hinfort der Vorsehung und zugleich der Großkaufmannschaft dienen. Auserkoren vom Meister aller Welten tritt es von nun seine hehre Mission an, indem es seine eigene Keimdrüse vor allem Ihnen, meine hochverehrten Herren Kommerzienräte - denn die Sache wird immer kostspielig sein und bleiben - zur Verfügung stellt. Das Verfahren selbst bietet einem erfahrenen Chirurgen keine besonderen Schwierigkeiten: man entfernt die Keimdrüse des Tieres und okuliert die dem betreffenden Herrn Großkaufmann als Ersatz für die eigene auf. Die bisherigen Erfolge waren glänzend. Mein erster | Versuch galt einem hinfälligen vierundsiebzigjährigen Engländer. Er wurde auf der Stelle Hochtourist und ließ es sich nicht nehmen, noch zur selbigen Stunde die Jungfrau zu besteigen. Später freilich, leider, zog er diesem Sport den Whisky vor und nahm ein unrühmliches Ende." - - - Brausender Beifall unterbrach den Sprecher, mir jedoch wurde totenübel, und ich bat den Mond, mit mir das Lokal zu verlassen.

Bei der Kokosnußbude wieder angekommen, konnte ich nicht umhin, den Mond mit den bittersten Vorwürfen zu überschütten. "Haben Sie denn gar kein Gewissen, Mann!" fuhr ich auf. "Wissen Sie wahrhaftig der Menschheit keine segensreichern Gedanken zu schicken, als solche? Nur noch Kommerzienräte soll es dereinst auf unserer Erde geben?"

"Gemach, gemach, mein lieber Sohn!" tröstete mich der alte Herr, "Sie haben doch nur den Anfang der kommenden Weltwende gesehen!

Den weiteren Verlauf kann ich Ihnen nur in Schlagworten andeuten, denn die Zeit drängt. Sie sehen selbst, es fehlen nur noch wenige Minuten, und ich muß abnehmen." - Er zog aus der Brusttasche seines Smokings einen kleinen Kalender und deutete auf ein rot angestrichenes Datum - "Ordnung ist Pflicht, auch für Himmelskörper!

Also hören Sie schnell: was glauben Sie wohl, wird geschehen? Zugegeben, der Kommerzienrat jeglicher Gattung wird sein Leben ins Unermeßliche verlängern. Zugegeben, er wird - gewissermaßen durch Endosmose - seinen Betrieb noch affenhaft regsamer gestalten. Wird er aber reüssieren? Ich sage: nein! Die Affen waren bisher vielleicht noch die einzig Ehrlichen unter den menschähnlichen Geschöpfen. Naturgemäß wird sich diese Ehrlichkeit durch Okulierung der Keimdrüse auf den Menschen übertragen, und dann eröffnen sich zwei Perspektiven: entweder der Handel wird etwas Erfreuliches, was allerdings sehr zu bezweifeln ist, oder der Kaufmann geht zugrunde. Doch ich sehe noch eine ganz andere Verwickelung, und zwar eine, die sehr in den Rahmen der Zeit paßt, nämlich: die Wissenschaft wird nicht stehen bleiben - dazu ist sie viel zu idealistisch gesinnt - , sie wird sich nicht damit begnügen. Affendrüsen dem Menschen aufzuokulieren: sie wird allmählich die umgekehrte Methode ebenfalls anwenden und Kommerzienratsdrüsen auf Schimpansen übertragen. Ich überlasse es Ihrer Phantasie - Sie sind doch Dichter! -, sich die Folgen auszumalen. Diktatur des Urwaldes ist doch das Allergeringste, was da zu erwarten steht! Werfen Sie mir nicht vor, ich sei zu wenig besorgt um das Wohl der Menschheit!"

Ehe ich noch Worte der Entgegnung finden konnte, war der unheimliche Gast bereits von mir gewichen und grinste wieder kalt herab vom Himmelszelt. Ich fühlte noch immer den Druck seiner Hand auf der meinigen, aber es kann sein, daß es die Hand des zudringlichen Arztes war, die mir den Puls fühlte. Täusche ich mich? Er sagte sogar: "Herr Meyrink, kommen Sie zu und gehen Sie in sich, mir scheint, Sie haben den Mondstich! Wer sitzt denn auch, entgegen jeder Polizeivorschrift, nachtschlafender Zeit auf der Oktoberwiese barhäuptig herum."